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Musik und Architektur (Fortsetzung Nr 84)

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Ein anderer Komponist, dieser ohne irgendwelche Bezüge zum Barock, gibt mir ein inniges «gotisches» Gefühl. Es ist Bruckner. Für mich ist er einer der grössten Architekten der Musik. Folgendes habe ich einmal über ihn geschrieben: «In eine Symphonie von Bruckner einzusteigen, ist wie eine gotische Kathedrale zu betreten. Man spürt in beiden die gleiche Majestät, den gleichen Frieden, das gleiche Gefühl der höchsten Verwunderung vor dem Können und der Kühnheit des Architekten, vor seinem Gespür für das Gleichgewicht der Masse und die Organisation des Raumes. Manchmal bleibt das Auge an einer Rosette, einem Kirchenfenster mit seinen warmen, schillernden Farben oder an einer Skulptur, einer ländlichen Szene oder einem Teufelchen an einem Kapitell hängen, dann wieder auf einem Ruhenden in einer Seitenkapelle, auf einer leidenden Madonna oder auf einem Christus am Kreuz. Auch ohne jegliches religiöses Gefühl spürt man plötzlich die Gegenwart und das Geheimnis des Todes. Weder in der Kathedrale noch in der Musik Bruckners erzeugt dieses Geheimnis Entsetzen, es spendet eher Trost.» Mit Bach und Bruckner geschieht eigentlich folgendes : Sie erreichen in der Musik, Jahrhunderte später, die gleiche Prachtsentfaltung, wie sie die gotische Architektur im Mittelalter hervorbrachte. Le Léonin und Le Pérotin haben ohne Zweifel das Monopol der Monodie gebrochen und den Weg zu einem immer klareren harmonischen Bewusstsein geebnet, aufgebaut auf die Gesetze der«universellen Schwerkraft des menschlichen Ohres». (Diese Formulierung ist nicht von mir, sondern von Frank Martin, und Ernest Ansermet bespricht sie in seinen «Grundlagen der Musik im menschlichen Bewusstsein».) Die Sprache der westlichen Musik kann sich nun bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten entfalten, von Genie zu Genie, bis Debussy und Bartôk. Die Vertreter der atonalen Musik verneinen diese Gesetzmässigkeiten und bezeichnen sie, obwohl «natürlich», als «Geisteshaltung» oder die Konsequenz einer Gewohnheit und ersetzen sie durch andere Systeme oder Gesetze, die nun wirklich eine Geisteshaltung sind. Aber das gehört nicht zu meinem Thema. Dass ich diese Idee der «Schwerkraft» aufnehme, hat damit zu tun, dass sie sehr schön eine Beziehung zwischen den Architekten und den Musikern aufzeigt: Die Architekten mussten immer schon mit dem «Gewicht»der Baumaterialien, Resultat der Erdanziehungskraft, rechnen. Würden sie dies nicht tun, würden ihre Gebäude einstürzen. Sie würden die Schuld zwar ihren Ingenieuren in die Schuhe schieben, aber ich glaube kaum, dass sie weitere Aufträge erhalten würden. Die Musiker hingegen mussten sich mit dem Geflecht von Anziehungen auseinandersetzen, welches Noten einer Tonleiter oder einer Harmonie nicht aufgrund von akustisch-physikalischen Gesetzen bilden, sondern aufgrund der «Wahrnehmung des Gehörs». Wenn die Komponisten das nicht berücksichtigen, stürzt zwar ihre Musik nicht zusammen, aber die Seele des Zuhörers wird leiden müssen, und nur wenige Menschen werden diese Musik anhören. (Die Komponisten werden den Fehler diesen Leuten in die Schuhe schieben, die wie ich keine fanatischen Anhänger der atonalen Musik sind und dies auch noch zu sagen wagen.) Eine letzte Kleinigkeit: All das berührt in keiner Weise den «Eigenwert» von Werken aller Zeiten der Geschichte. Jede Epoche in der Kunstgeschichte und der Musikgeschichte hat ihre unverwechselbaren und unersetzlichen Meister.

Zweiteilige, dreiteilige und symmetrische Formen Für jeden schöpferischen Künstler ist die Frage der Form seines zu schaffenden Werkes grundlegend. Die äusserliche Form darf dabei nicht wichtiger werden als der Inhalt, dem der Künstler Form geben will. Mit anderen Worten, die Form steht im Dienste des Werkes, und nicht umgekehrt. Die Schwierigkeit bei der Frage nach der Form ist, dass man die Idee auf ihre Grundform, ihr Gerüst reduziert, auf den «Behälter», der mit einem Inhalt zu versehen ist, auf die Armierung oder auf einen Plan (die Architekten wissen, was das ist), auf ein Schema usw., bis zu dem Modewort Struktur, vor dem ich mich in acht nehme. Ich versuche deswegen immer, dem Feind in den Rücken zu fallen. Ich umgehe die Form und versuche mir vorzustellen, was unförmig, missgestaltet, verformt oder ungeformt ist, was sich Formation, Information, Desinformation, Falschinformation - es gäbe deren noch mehr-nennt. 85.i

Wie mir scheint, wird so klarer, was der Begriff «Form» als Ursprung all der anderen Begriffe alles beinhaltet. In diesem Lichte versuche ich zu verstehen und verständlich zu machen, was ich mit «Form» meine. Um diese Gedanken weiter zu erklären, müsste ich noch viele Seiten schreiben. Die elementarste Form ist natürlich die «einteilige» Form. (Wichtig als Begriff aus dem Wörterbuch; ich brauche ihn zum Vergleich mit den zwei- und dreiteiligen Formen.) Eine grosse Anzahl musikalischer Werke ist einteilig, das heisst, aus einem Stück, aus einem «Bogen» gemacht .Arien, Genre-Stücke, Etüden und Präludien (aus einem «Block», ohne Türme, Flügel, angebaute Garage usw.) Das hindert nicht daran, die einteilige Architektur trotz ihrer ins Auge fallenden Einfachheit mit zwei Seiten zu sehen, beidseitig einer imaginären zentralen Achse, also symmetrisch, wie bei einem Gesicht. In der Musik gibt es etwas Ähnliches : Man beginnt bei einem bestimmten Punkt (in der tonalen Musik ist das die Tonika), um nach einer bestimmten Anzahl von Ereignissen (z.B. Modulationen) und nachdem ein Höhepunkt, oft durch eine Dominante ausgezeichnet, überschritten ist, an den Ausgangspunkt zurückzukehren. (Der technische Wortschatz verrät eine Wahrheit: Von C-Dur nach G-Dur (Dominanttonart von C-Dur) zu gelangen, ist wie das Erklimmen eines Turmes; ausgehend von der untersten Stufe bis zu der obersten Plattform schreitet man von einem gewissen geographischen oder topographischen Punkt zu einer«dominanten» Position, von wo aus weite Aussicht zu geniessen ist, aber zu einem gewissen Zeitpunkt muss man wieder an den Ausgangspunkt zurückkehren. Man hat den Eindruck, etwas in sich selbst Geschlossenes «beendigt»zu haben, was nicht ausschliesst, etwas anderes anderswo neu anfangen zu können. Diese etwas vereinfachende Betrachtungsweise lässt die unendliche Vielfältigkeit der einteiligen Form unberücksichtigt. Trotzdem erkennt man den Höhepunkt als eigentliche Symmetrieachse, mit einem Links und einem Rechts. Die Symmetrie ist nicht absolut. Wäre sie es, würde sie unmenschlich. Das menschliche Gesicht ist ein gutes Beispiel dafür. Nehmen Sie zu diesen Zweck ein Foto mit Ihrem Porträt, von vorn aufgenommen, und stellen Sie im rechten Winkel zum Nasenrücken einen Spiegel darauf. Die linke Seite Ihres Gesichtes spiegelt sich rechts, und umgekehrt. Sie erhalten so zwei Gesichter, in denen Sie sich kaum wiedererkennen. Der genaue rechnerische Parallelismus der Maschinen oder der Roboter hat sicherseine Berechtigung in der Wissenschaft, aber nicht in der Kunst. Die zweiteiligen Formen sind in der Musik weit verbreitet. Schon im Kern eines einfachen Themas kann man oft ein Abwechseln zwischen «Frage» und «Antwort», der Grundform des Dialogs, sehen (und vor allem spüren). Mozart ist meines Erachtens der Meister dieses zwiegesprächlichen Balanceaktes inneralb eines gleichen musikalischen Themas. (Sogar seine Instrumentalwerke werden durch ein ständiges Spiel des Dialoges bestimmt, wie zwischen lebendigen Personen. Deswegen sagt man, dass alles bei Mozart immer«Oper» ist, aber nicht im Sinn von «Theater», sondern im Sinne einer Entblössung menschlicher Herzen, die einander lieben, die eifersüchtig sind, sich beneiden, sich gegeneinander verschwören oder miteinander Komödie und Tragödie spielen.) Die zweiteilige Form wird nun von weiter oben, mit einem grösseren Blickwinkel betrachtet: Es geht um den Kontrast zwischen den beiden Themen, eines männlich herzhaft, das andere feminin; mit anderen Worten, das eine quadratisch, kantig, kräftig (manchmal grob), das andere voll von Rundungen, anmutig und weich. Beethoven ist meiner Ansicht nach der Meister der Abwechslung dieser gegensätzlichen Themen. (Vincent d'lndy hat die Begriffe der männlichen und weiblichen Themen ganz besonders für Beethoven geprägt.) In der Architektur entspricht dies der Gegenüberstellung oder der Ergänzung der geraden Linie oder des Winkels durch die Kurve. Aus noch weiterer Sicht ist die zweiteilige Form auch die feierliche, langsame, vielleicht in Moll gesetzte Einleitung, gefolgt von einem erfrischenden Allegro oder Vivace in D-Dur. Die dreiteilige Form ist die grundlegende in der Musik. Es ist die grosse A-B-A-Form. Man trifft sie bereits oft bei gregorianischen Gesängen an. Das bedeutet nichts anderes, als den mittleren Körper mit zwei Flügeln, das Kirchenschiff mit seinem Querschiff zu versehen. (Der menschliche Körper ist so organisiert: die zwei Arme beidseitig des Rumpfes.) Die Barock-Komponisten wenden diese Form systematisch an: Die Arie, der Satz einer Sonate oder eines Konzertes mit da capo, das heisst Wiederholung des ersten Teiles bis zum Zeichen «fine» (manchmal schreibt der Autor nach dem zentralen B-Teil nochmals den ganzen A-Teil); das Menuett I, gefolgt vom Menuett II, und das Menuett I da capo wiederholt (später wird das zum vom Trio gefolgten Menuett, wobei auch hier

das Menuett wiederholt wird); weitere überlieferte Tanze aus der Renaissance. Der zentrale Körper des Gebäudes kann entweder eine bescheidene Verbindung zwischen zwei symmetrischen architektonischen Gebilden oder aber der Hauptknoten eines grossartigen Ganzen sein. In der Musik ist das gleich. Das, was man die Form der«Sonate» nennt (nicht die Folge verschiedener Satze in einem vollständigen Werk, wie z.B. Allegro, Adagio, Menuett und Rondo), ist dreiteilig. Die «Sonatenhauptsatzform» (man trifft sie ursprünglich in der Sonate, im Quartett, im Trio, in der klassischen Symphonie und noch anderswo) besteht zur Hauptsache aus einer Exposition, einer Durchführung und einer Reprise, also aus ABA. DerTeil B kann sehr bescheiden sein und nur als Übergang oder zur Verbindung der Exposition und der Reprise dienen. Er kann auch grossartig sein. (Die Durchführung ist die vom Komponisten angewandte Arbeit mit thematischen Elementen, mit den melodischen oder rhythmischen Einheiten, mit den oben aufgeführten Ideen, kurz, eine Arbeit, die manchmal in einem Klima dramatischer Spannung das Zurückfinden nach A vorbereitet. Oft hört man die Behauptung, Beethoven habe die Formen «gebrochen», mit dem Vorwand, er habe seinen Durchführungen eine aussergewöhnliche Wichtigkeit verliehen. Beethoven hat keine Formen gebrochen, er hat nur die Sonatenform seinem Genie entsprechend entwickelt. Die Exposition A ist selbst bereits eine Form. Sie hat meistens zwei Themen, ist also zweiteilig: ein Thema A (in derTonika bzw. der Grundtonart), gefolgt vom Thema B, fast immer gegensätzlich (in der Dominanttonart). Bei der Reprise sind beide Themen in der Grundtonart (Tonika). (Ich beschreibe hier ungefähr die Schulform der Sonate. Es versteht sich von selbst, dass die Komponisten daraus machen, was und wie sie es wollen, und dass es eine unendliche Vielfalt von Werken mit dieser Form gibt, wie es unverwechselbare menschliche Gesichter gibt, auch wenn sie alle die Nase in der Mitte tragen.) Nun noch einige Worte zu der Form des «Rondos». Im grossen und ganzen ist das A gefolgt von B, zurückzu A, dann C und wieder zurück zu A, dann D und nochmals A usw., nach dem Schema ABACADA. In der Architektur sehe ich diese Form etwa in einer gotischen Häuserreihe (in Freiburg haben wir solche). Jedes zweite oder dritte Haus gleicht dem andern wie ein Zwilling. Dazwischen stehen Hauser im gleichen Stil, aber mit anderen Höhen- und Breitenmassen (oder mit einem anderen Rhythmus: zwei, drei oder vier Fenster liegen in einer Fassade übereinander, manchmal ändert sich das sogar von Stockwerkzu Stockwerk). Strassen gleichen Stils haben eine «Strassenmusik», die man durchschreitet, so wie man einem Rondo folgt. Ich könnte noch weitere Formen aufführen, ihre Entwicklung aufzeigen und dann Parallelen zu anderen architektonischen Formen herleiten. Ich begnüge mich damit, einige Richtlinien oder Wegweiser aufzustellen, um den Blick auf die entfernten Ziele zu richten, um die Vorstellungskraft, das Nachdenken und das Traumen anzuregen. Jean-Michel Hayoz Direktor des Konservatoriums von Freibürg