In der letzten Ausgabe ist der erste Teil dieses vom Atelier 5 verfassten Artikels erschienen. Alfredo Pini und Anatole du Fresne durchliefen verschiedene Stadien der Erfahrung anderer Protagonisten der Architektur und lüfteten dabei Teile des Schleiers über dem Geheimnis der Gruppenarbeit und ihrer zukünftigen Entwicklung.
Anatole du Fresne: Spazio e Société hat uns ja um einige Äusserungen zur gegenwärtigen Situation in der Architektur gebeten. Ich möchte da noch einmal einen Anlauf nehmen: Spazio e Société. Wenn du dich zurückerinnerst an die Zeit um 1969, die Zeit als wir unser Projekt Lima erarbeiteten, da ging es sehr wenig um «Spazio» und sehr viel um «Société». Die gesellschaftlichen Fragen rund um unseren Beruf hatten eine enorme Bedeutung. Wenn du dir eine Zeitschrift wie Architectural Design aus dieser Zeit ansiehst, dann stellst du fest, dass sich eine ganze Generation von Architekten mit den Fragen beschäftigt hat: Was passiert mit unserer Gesellschaft, wie muss sie gebaut werden, um den veränderten Ansprüchen dieser Gesellschaft gerecht zu werden? Wir wissen nun, es gab eine Wende. Ich erinnere mich da an meine Vorstellung des Projekts Lima an der ETH in Zürich bei Küster. Die Reaktion der Studenten damals: unser Projekt würde keine Lösung darstellen für die Probleme der wirklich armen Leute in diesem Land. Der Entwurf interessierte die Studenten wenig, das Soziale war ihr grosses Anliegen. Ich war damals etwas verärgert, und als dann kurz darauf die Anfrage von der gleichen Stelle kam, ob wir nicht unser Projekt Oftringen erläutern könnten, hatte ich keine Lust mehr. Das heisst, ich konnte mir nicht vorstellen, aus einer Einfamilienüberbauung mittels einer verbalen Pirouette ein Projekt für sozialen Wohnungsbau zu machen. Ich bat Blumer, der schon immer einen Hang zum Sozialen hatte, hinzugehen und das Projekt zu erklären, weil ich glaubte, er würde den damals gängigen Jargon der Studenten besser beherrschen. Das war 1973. Blumer ging hin und wurde vollständig überrascht vom Gesinnungswandel, der sich unter den Studenten breitgemacht hatte. Die sozialen Probleme waren plötzlich kein Thema mehr, gefragt war Entwurf. Wie ist dieser und jener Platz gestaltet, wie dieses Haus? Eine Struktur, wie wir sie ausgearbeitet hatten, würde doch als Projekt nicht genügen usw. usw. Inzwischen war Rossi der Professor in Zürich, Reichlin sein Assistent. Ein anderes Beispiel: Schau dir dieses Buch über die Mailänder Ausstellung «Le cittä immaginate» an. Da merkst du, dass die Architekten ihren Beruf jetzt als den des Künstlers verstehen. Da geht es nicht mehr um die Frage, wie für unsere Gesellschaft gebaut werden soll, da interessiert nur noch, wie die Sache ausschaut. Über diese Veränderungen, die ich hier natürlich nur an zwei oder drei Beispielen zu schildern versuche du weisst worum es geht - , wäre doch aus unserer Sicht wohl schon etwas zu sagen. Ich erinnere mich auch noch an deine Aufregung nach dem Museumsbesuch in Deutschland (Stuttgart, Mönchengladbach). Ich erinnere mich an deine Intervention in Nyon, als du gegen das Projekt von Mangeat aufgetreten bist, ich erinnere mich an deine Reaktionen auf die Entwicklung der Architektur im Tessin, wo ein Kanton langsam vor die Hunde geht, während sich die Architekten immer manierierter benehmen.
Alfredo Pini: Ich glaube, es gibt auch Anzeichen einer Besserung. Wenn ich sehe, dass man uns jetzt den Auftrag gibt, eine Teil eines Wohnquartiers in Florenz zu realisieren, wenn ich die Leute vor mir sehe, die ich dort getroffen habe, die sehr wohl verlanden haben, dass es um mehr geht als darum, Gelder einfach möglichst attraktiv zu plazieren... diese Leute, die haben genau kapiert, dass es mit dem Zusammentragen attraktiver Namen nicht gemacht ist. Sie wissen, dass es den Architekten, der sich mit den Bedürfnissen der Bewohner auseinandersetzen will, sehr wohl braucht. Da unten wurde nicht von einer Architektur-Olympiade gesprochen, sondern von einem Quartier, vom Leben in diesem Quartier, von der Zusammenarbeit mit Soziologen. Offensichtlich hat man da das Gefühl, dass Architekten, die, um es einfach zu sagen, der Postmoderne zuzuordnen wären, sich wenig mit diesen Dingen beschäftigen würden. Sagst du das allerdings einem Vertreter dieser Richtung, dann reisst er dir die Augen aus, denn er behauptet ja gerade das Gegenteil, behauptet, dass wir, die Rationalisten eben, die Welt kaputt gemacht hätten, die Städte zerstört, den Bedürfnissen des Lebens nur scheinbar Rechnung getragen. Es ist ja auch ein kaum zu lösender Konflikt, wenn ein Bofill meint, den Bedürfnissen der Bewohner gerecht zu werden, wenn er sie hinter riesigen dorischen Säulen wohnen lässt, um gleichzeitig vehement zu widersprechen, wenn man ihm sagt, er würde die Menschen
brauchen als Hintergrund oder Anlass, um ein Monument zu bauen. Eine schwierige Sache, wenn wir von den Räumen reden, in denen die Menschen leben, von den Beziehungen dieser Räume untereinander, vom Lebensraum, den eine moderne Gesellschaft braucht, und deine «Gegner» sagen, der Mensch lebt von seiner Geschichte, er lebt von seinen Erinnerungen, das war schon immer so, man muss zurückgreifen. Eine sehr komplizierte Angelegenheit... AdF: Aber man möchte wohl schon etwas mehr hören von uns als einfach eine Feststellung, es sei eine sehr komplizierte Angelegenheit. Wir sind ja nicht distanzierte Geschichtsschreiber, sondern direkt beteiligte. Wenn du also zum Beispiel nach Nyon fährst, um Mangeats Projekt für eine Schule abzuschiessen, dann müsstest du doch auch in der Lage sein, in kurzen Zügen zu erklären, worum es ging. Wenn du der Philosoph wärst, den du jetzt da im Gespräch an den Tag legst, dann würdest du ja nicht derart auf die Barrikaden steigen. AP: Kann ich. Ich habe da vertreten, dass der Habitus, den diese Architekten ihrem Projekt verleihen, in keiner Art und Weise dem modernen Leben entspreche. Für uns ist das einfach eine Architektur, die eine andere soziale Prägung hat, eine seltsame Prägung. In einem Zeitalter der Befreiung von Zwängen, einem Zeitalter der offenen Schule zum Beispiel, der sozialen Schule, wo versucht wird, von der Erziehung her Schwellen abzubauen, wird von Seiten der Architekten in die Kiste der Geschichte gegriffen, um Bürgertum und Repräsentation hervorzuholen, als sei die moderne Zeit spurlos an uns vorübergegangen. AdF: Dies gilt ja nun eben nicht nur für dieses eine Projekt in Nyon. AP: Beim Projekt für eine Schule schon kaum verständlich, wird solches Verhalten bei Bofill und seinen Projekten, wo es eigentlich um sozialen Wohnungsbau geht, endgültig zur Farce. Da geht es nur noch um Architektur für sich selber. Da wird zurückgeschaut auf die Geschichte, ohne irgendwelche Lehren zu ziehen, da wird einfach abgezeichnet, keine analytischen Prozesse, sondern einfach das Aufstellen von Pappkulissen. Dinge, die einmal einen Sinn und eine Bedeutung hatten, werden wieder hervorgeholt, ohne dass man Sinn, Bedeutung und Inhalt wiederbringen könnte. AdF: Nimm das Beispiel für das Projekt der Villa Favorita. Ich kann mich genau erinnern an die erste Besichtigung der alten Galerie. Für uns alle war klar, dass dieses Gebäude, das kurz nach 1930 gebaut worden war, als Privatgalerie für den Vater des heutigen Baron Thyssen zwar möglich, aber im Grunde genommen ein glatter Anachronismus war. Keine Spur davon, wie um 1930 gebaut wurde, im Grunde nichts weiter als die Bestätigung des damaligen Bauherrn, dass die Kunst mit dem 18. Jahrhundert aufgehört habe, Kunst zu sein. Einige Jahre später dann, im Zusammenhang mit dem Projekt für die neue Galerie, gingen wir zusammen mit Thyssen und Stirling durch den Bau. Und ich sehe und höre wie Stirling mit Interesse dieses komische Ausstellungsmilieu zur Kenntnis nimmt, ja bewundert. Ja und es geht noch weiter. Wenn ich aus direkten Gesprächen mit Thyssen weiss, dass er ein durchaus kritisches Verhältnis hat zu Fälschungen dieser Art - ich kann mich erinnern, dass er eines der Gebäude abbrechen lassen wollte, weil er genau wusste, dass es nichts wert war - und du einige Monate später vor der Tatsache stehst, dass sich der gleiche Mann Stirlings Projekt auswählt, das genau in der Reihe der bisherigen Fälschungen steht, und wenn dann zu allem hinzu die gesamte Architekturkritik einem solchen Treiben gegenüber mit offenem Mund dasteht, voll Bewunderung, und keiner stellt die Frage, ja Moment mal, eine moderne Sammlung und dann ein solches Haus?... was dann ? Lässt sich das vereinbaren ? AP: Nun die Architekturkritik lebt natürlich von der Ode, wenn sie verkaufen will. Der eine macht den andern zum Helden, ein gegenseitiges Schulterklopfen. Gestern war ich im Palazzo Strozzi in Florenz, habe mir da eine Ausstellung angeschaut, danach im Palazzo Vecchio. Und da siehst du es ganz klar, dass Stirling in seinem Projekt für die Favorita oder in seinem Projekt in Stuttgart durchaus Elemente aus dieser Architektur übernommen hat. Wenn du aber siehst, mit wieviel Strenge und Sachverstand die alten Bauten gemacht wurden, merkst du plötzlich, warum seine Projekte nicht stimmen. Die damalige Architektur hatte ihre Berechtigung. Die Referenz an die vergangene Zeit, was soll das. Stirling geht einfach hin und findet die alten Dinge schön, fühlt sich wohl und nimmt was er braucht, plaziert es in einem anderen Konzept. Dieses Herausnehmen aus dem Zusammenhang und Plazieren nach Geschmack ist unerträglich. Nimm den Dom von Florenz, ein extrem fein geschnittenes, fein ziseliertes Gebäude aus 93 il
Marmor, ein immenser Bau, unglaublich gross, er sprengt die ganze Stadt. Wenn du ihn siehst, kannst du nicht verhindern daran zu denken, dass die Leute in der Zeit, als dieser Bau gebaut wurde, auch in den entsprechenden Kleidern herumgelaufen sind, und nicht in Jeans und Windjacken. Bürger und Bauten, damals als grosses Gesamtes. Wenn man jetzt versucht, die Faszination dieser Zeit wieder heraufzubeschwören, dann vergisst man, dass sich die Gesellschaft verändert hat und dass sie sich nicht zurückverändern lässt. AdF: Eine Welt schaffen zu wollen, die sich über die Probleme des Alltags hinausheben soll, das ist ja im Grunde genommen ein fantastischer Trugschluss. Unser Beruf ist im Begriff zu einem Bühnenbildnermétier zu verkommen. Wenn Peduzzi für die Chéraux-lnszenierung des «Ring» in Bayreuth 19. Jahrhundert zitiert, dann weiss ich dass die Vorstellung mal ein Ende hat. Bei Bofill bleibt die Sache aber stehen. Wir leben in einer Zeit der Walkmen, der Personal Computer, der Bluejeans, in einer Zeit, die durch den Informationsüberfluss und durch technische Neuerungen geprägt ist, wie nie eine Zeit zuvor. Und dann soll die entsprechende Antwort in der Architektur der Blick zurück sein ? Völlig absurd. Wenn Hollein in seinem Entwurf für die neue Oper in Japan Leute in seine Pläne zeichnet, die angezogen sind wie das europäische Bürgertum im 19. Jahrhundert, dann arbeitet er wie ein Bühnenbildner und nicht wie ein Architekt. AP: Eine ekelhafte Geschichte. AdF: Ist es wirklich unmöglich für den heutigen Menschen mit seinem ganzen technischen Krimskrams, mit seiner Mobilität, die viel verrückter ist, als man es sich je hätte vorstellen können, einen adäquaten Ausdruck zu finden in der Architektur? AP: Vorläufig hat man sich für den Betrug entschieden. Man will die Realität unterdrücken. Man will nicht sein, wer man ist. Mit den Mitteln der Kultur, oder besser durch einen Missbrauch von Kultur, eine Vergewaltigung der Geschichte, wird eine Welt der Illusionen aufgestellt. Eher ein Problem für Psychologen als für Architekten. AdF: Wir haben beide die Corbu-Ausstellung in Zürich gesehen (esprit nouveau), da spürst du wie die Leute um Corbusier nach einem Ausdruck für eine neue Gesellschaft gesucht haben. Was braucht der Mensch für Häuser, für Wohnungen, für Autos, für Möbel ? Da wurde Grossartiges geschaffen. Und nun ist die moderne Entwicklung tatsächlich eingetroffen, in einem Masse, das alles, was man sich vorstellte, weit übertroffen hat, aber die Antworten fehlen. Für den grössten Teil der Architekten ist es offenbar plötzlich kein Anliegen mehr, für diese moderne Gesellschaft einen architektonischen Ausdruck zu finden. Ich muss sagen, ich bewundere da einen Foster, der nicht einfach vorbeisieht, der wirklich in unserer Zeit lebt und arbeitet. AP: Aus der vergangenen Zeit übertragen, aber nicht kopiert. Wir meinen ja nicht, man solle die Vergangenheit übersehen. Die Postmoderne bietet sich aber der Vergangenheit mit einer gewissen Unterwürfigkeit an. Man unterwirft sich, glorifiziert aber im Grunde sich selber mittels der Vergangenheit. Und was willst du einen Dialog aufnehmen mit jemandem, der im siebten Himmel schwebt, wenn er vor dem Stirling-Projekt für die Villa Favorita steht. Du willst nicht wissen, was ihn beschäftigt, er will nicht wissen, was dich beschäftigt, ein Dialog kann gar nicht erst entstehen. AdF: Du sagst es. Was soll ich mit einem Krier diskutieren, der einen Prunkband über die wichtigsten Speer-Projekte herausgibt, versehen mit positiven Kommentaren. Doch weiter, noch ein Wort über die Situation im Tessin. Seinerzeit gab es eine recht starke Beziehung zwischen den modernen Tessiner Architekten und uns. Ihre Arbeiten hatten in ihrer ganzen Auffassung eine klare Ähnlichkeit mit den unsrigen. Wenn wir uns aber heute eine Bank von Snozzi in Monte Carasso oder die Post von Galfetti in Bellinzona, die Bank von Botta in Lugano anschauen, dann spüren wir eine Entfremdung. Wie sympathisch war uns das Haus des Bürgermeisters in Monte Carasso (Snozzi)... uns schien, hier sei mit den Mitteln der modernen Architektur ein Pendant gefunden worden zur einfachen Architektur dieses ärmlichen Tessinerdorfes. Wie unverständlich schien uns dagegen der ironische Kommentar zur «Raiffeisenbank» in Form eines goldenen Tores. AP: Ich denke, bei Snozzi sind es höchstens Teilaspekte, die mich stören. Ich sehe da eine dialektische Auseinandersetzung. Snozzi ist offenbar auch ein recht provokativer Typ. Ich kenne ihn allerdings kaum. Die Bank von Monte Carasso ist für mich eine Art irre
Behauptung, für uns irre, meine ich, er kann sie sicher erklären. Aber wie Snozzi mit dem Ort umgegangen ist, ist sicher erstaunlich, da sehe ich grundsätzliche Ansätze. Was er da gebracht hat, scheint mir recht interessant. AdF: Aber die Post in Bellinzona, wo Galfetti den Wiener Städtebau plötzlich in den Tessin bringt... AP: ... eine seltsame Geschichte. AdF: ... Wo man meinen könnte, man sei mitten im Zentrum des Wohlstandes. AP: Das ist man natürlich auch. AdF: Und dann gehst du in die Seitentäler und bist aber gleich unter den Ärmsten unseres Landes. Hat man sich da nicht auseinandergelebt, die Tessiner Architekten und wir? Wenn du den Leuten zuhörst: Ihre Argumente verstehe ich, die Mittel, die sie anwenden, nicht mehr. Drum meine ich auch, ob wir uns nicht nach einer Phase der «Verbrüderung» jetzt wieder in einer Phase der Isolation befinden. Denn so wollen wir nun einmal die Dinge nicht sehen. AP: Ja... In Algerien zum Beispiel baut man im Moment vor den alten Fassaden, die über Jahrzehnte in improvisierter Art gewachsen sind, zufällig zusammengesetzt, ohne höheres Ordnungsprinzip, einen Schirm. Also eine neue Fassade mit Laubenbogen, um das Entstandene abzudecken, um dem ganzen ein neues Kleid zu geben. Da siehst du ganze Strassenzüge mit neuen Fassaden, die man vor die unwillkommenen alten gesetzt hat. Kein Bezug zwischen dem Alten und dem Neuen, nichts anderes als eine Art, seine eigene Geschichte zu verleugnen. AdF: Ein Verneinen der Realität. Die gebaute Aussage, dass diese Gesellschaft, diese disperse, diffuse Gesellschaft keine brauchbare Architektur mehr abwirft, dass folglich ein Schild davor gebaut werden muss. Was du da schilderst ist nichts weiter als eine Potemkinsche Stadt. Ist solches auf die Dauer überhaupt noch erträglich ? AP: Die Maskerade wird es immer und immer wieder geben. Ich sehe unsere Art zu arbeiten dadurch nicht in Frage gestellt. AdF: Mein Problem ist nicht unbedingt die Infragestellung der eigenen Existenzfähigkeit. Es geht mir um das Problem der Einsamkeit, um das Problem der fehlenden Bewegung auf breiter Front, die erst wirklich möglich macht, neues zu schaffen. Corbusier hatte ja Kampfgefährten, die mit ihm zusammen etwas in Bewegung brachten. Vermisst du heute nicht manchmal eine neue Sicht der Dinge, die über deine eigenen vier Wände hinausgeht? So wie man sich damals gefunden hatte, rund um die Charte dAthènes. Bedauerst du nicht, dass es heute Perspektiven mit einer weiteren Sicht nicht mehr gibt? Dass jeder einfach so vor sich hin bröselt? AP: Ich glaube, die unglaubliche Menge von Informationen, von Möglichkeiten, hat letztlich halt doch einfach eine Verwirrung zur Folge. Politisch, sozialpolitisch erlebst du eine Verwässerung, eine Auflösung. Der Rationalist unter den Architekten erlebt vielleicht etwas ähnliches wie der Ideologe unter den Sozialisten oder Kommunisten, für die die gegenwärtige Entwicklung wohl auch eine rechte Enttäuschung sein muss. Vielfalt statt Einheitlichkeit der Richtung, das ist wohl typisch für unsere Zeit. AdF: Die alles verbindenden Referenzpunkte fehlen, was wir bereits einmal gesagt haben. Weder du noch ich können heute in der zeitgenössischen Literatur, im Theater, in der Malerei, in der Musik, in der Architektur vebindliche Referenzpunkte nennen. AP: Es wird immer disperser, diffuser. Wenn ich mich an die Werkbund-Zeiten erinnere, wie da nach einem allgemeinen Drehbuch gearbeitet wurde, das ist alles vorbei. Heute hast du nicht Befürworter und Gegner einer grossen gemeinsamen Sache, sondern du hast eine unglaubliche Anzahl verschiedener Ansichten und Meinungen. AdF: Ungefähr so hat Speer die Situation in seinen Memoiren beschrieben. Tausend Meinungen, tausend Antworten, totale Konfusion, totales Durcheinander. Und dann kommt der grosse Vereinfacher, der weiss, wie man's macht. Solches ist nach den gehabten Erfahrungen in Europa wohl nicht mehr möglich... nicht mehr als ein Gedanke. AP: Die konfuse Situation haben wir natürlich nicht nur in der Architektur, jeder lebt heute immer mehr für sich alleine, Abhängigkeiten werden immer weniger wichtig. Bilder, die wir vor uns haben, wonach sich die traditionelle Schule zum Beispiel als 93.iv
Orte der Versammlung und des Zusammentreffens, auflösen könnte zugunsten einer direkt ins Haus gelieferten Information, sind nicht so leicht zu verkraften. AdF: Veränderungen, die man eben aber nicht wahr haben will. Oder vielleicht gar nicht mehr wahr haben kann, wenn es um Architektur geht. Es gibt kein neues Museum in Stuttgart und Lugano, sagt Stirling. Mich beschäftigt die grossbürgerliche Villa aus dem vorigen Jahrhundert, meint Schnebli. AP: Die postmoderne Bewegung vermittelt nun einmal die Illusion, Wissen um Vergangenes und Kultur ganz allgemein sei mit im Spiel. Und solches verkauft sich entsprechend gut und zwar nicht nur auf der Ebene der Macher, sondern auch auf derjenigen der Kritiker. Dieses scheinbare Anknüpfen an die Vergangenheit findet dann erst noch nicht nur dort statt, wo sich die Dinge ursprünglich zugetragen haben, sie werden auch dort übernommen, wo es solches gar nie gegeben hat, sei es nun in Japan, auf den Philippinen oder was weiss ich wo. Kommt noch dazu : Wenn natürlich die moderne Architektur in einem derartigen Masse verbreitet wird, wie dies nach dem zweiten Weltkrieg der Fall gewesen ist, dann gibt es eine gewisse Saturation. AdF: Der Überdruss der Architektur gegenüber, die in der Zeit zwischen 1950 und 1985 gebaut worden ist, ist wohl nicht unbedingt ein Überdruss der Modernen gegenüber, in ihrer Vollendung konnte diese im Städtebau ja gar nicht wirklich realisiert werden. Man hat eher genug von dem Stückwerk, genug von der ungenügenden Qualität. Dort wo die moderne Architektur in wirklich einheitlich durchgearbeiteter Form aufgetreten ist, hat sie doch bei vielen Leuten positive Reaktionen ausgelöst. Denk an Halen. Es braucht halt schon das abgerundete Ganze. Doch darüberhinaus, wie lösen wir die Dinge? Wir sagen, wir haben eine diffuse, disperse Gesellschaft, eine Zeit der Orientierungslosigkeit. Diese soll aber nicht versteckt werden hinter Fassaden des 19. Jahrhunderts, sie soll aber auch nicht untergehen im gebauten Chaos. AP: Die Gesellschaft soll in jedem Fall nicht vor ihren eigenen Problemen fliehen, das kann nur schief gehen. Vielleicht kann aus dieser konfusen Gesellschaft auf dem Gebiet der Architektur halt doch etwas entstehen, das ein brauchbares Umfeld gibt. AdF: Ich glaube, das grosse Durcheinander wird vielleicht erst dann einigermassen erträglich, wenn es eine wirklich grosse Dichte aufweist, denk an New York. Ich bin zwar nie dort gewesen, aber ich kenne es von Bildern. Da ist alles so dicht beieinander, dass es doch zu einem erträglichen Ganzen zu werden scheint. Da ist nicht dieses Nebeneinander isolierter Einzelstücke, wie wir es in unserer direkten Umgebung finden. Übergrosse Verdichtung also vielleicht als städtebauliches Rezept. AP: Bei der Auflösung der Stadt in Einzelobjekte ist man damals wohl schon von der Qualität des einzelnen Zimmers, der einzelnen Wohnung ausgegangen. Und da lag wohl der Trugschluss. Heute weiss man, dass diese Probleme so nicht gelöst werden können. Man kommt zurück auf die «Rue Corridor» und vergisst aber gleichzeitig wieder die Qualität der einzelnen Wohnung. Natürlich, in auserlesenen Situationen liesse es sich wohl schon wohnen in der Stadt des vorigen Jahrhunderts, aber die ganzen Abfallräume, die eine solche Stadt produziert, die darf man nicht vergessen. Wir haben es ja schon bei unserem Projekt Thalmatt 2 gesehen, da sind wir bereits an Grenzen gestossen, was die Dichte betrifft. Gewisse Räumlichkeiten können für Gewerbe und Büros noch genutzt werden, zum Wohnen wären sie schon nicht mehr geeignet. Dabei weist ja Thalmatt 2 nur eine Dichte auf von 0,75. Eine Dichte aber von 3, wie du sie im Centra Storico in Florenz vielleicht hast, die funktioniert erst dann, wenn du die Kinder rausnimmst, den Verkehr, und wenn du alles, was im Grunde nicht bewohnbar ist, auffüllen kannst mit Lager- und Gewerbeflächen. Wir sind bis heute wie gesagt über 0,75 nicht herausgekommen. Darüber, wie man die einzelnen Wohnungen wirklich nutzt, ob diese eine den heutigen Ansprüchen genügende Wohnqualität aufweisen, hat man wohl zuwenig nachgedacht, als plötzlich die Stadt des 19. Jahrhunderts wieder aus dem Kasten genommen wurde. Von den Problemen des Verkehrs gar nicht zu reden. AdF: Wir haben jetzt vielleicht die Chance zu zeigen, wie man so etwas lösen könnte: Am Beispiel der 150 Wohnungen, die wir in Florenz bauen werden.