Architecture Suisse

LIBRE

Luis Barragán

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Federico Babina | www.federicobabina.com

Text: Federico Babina

Poesie in Farbe

Das Werk von Luis Barragán entstand am 9. März 1902 in Guadalajara, Jalisco. Das Werk des Künstlers besticht durch seine Komplexität und Raffinesse, aber zugleich durch seine einfache und emotionale Schönheit. Das Leben eines jeden Menschen ist wie ein Mosaik, das mit der Zeit und der Erfahrung aufgebaut, verändert und vervollständigt wird. Von der Kindheit an werden kleine Teile hinzugefügt: Einige sind grundlegende und unveränderliche Elemente, während andere, die dem Lauf der Zeit nicht standhalten, abfallen und durch neue Komponenten ersetzt werden, um das Werk, das unser Leben darstellt, zu vervollständigen.

Das künstlerische und kreative Mosaik des mexikanischen Ingenieurs und Architekten Luis Barragán Morfín nahm bereits in seiner Kindheit Gestalt an, während der langen Aufenthalte in der ländlichen Umgebung der Hacienda de Corrales. Die mexikanischen Farben, Texturen, das Licht und die Natur wurden bald zum Alphabet und Lexikon seiner Formensprache.

Die verschiedenen Komponenten von Barragáns kreativer Persönlichkeit sind das Er-gebnis seiner Interpretation der mexikanischen Volksarchitektur und seiner Begegnun-gen mit dem internationalen Stil auf seinen Reisen durch Europa. Eine Collage aus scheinbar heterogenen Baustoffen, die mit äußerster Sorgfalt und künstlerischem Fein-gefühl in Einklang gehalten und amalgamiert werden.

Daraus entstand eine skulpturale, emotionale und meditative Architektur, die sich zu ei-nem persönlichen Stil reiner Formen verfestigt hat. Ein Stil, der sich durch den Verzicht auf Dekoration und durch seine Mischung aus eingebauten Elementen der europäi-schen Moderne, mediterranen Formen und der 

traditionellen mexikanischen Architektur auszeichnet. Seine Leidenschaft für Musik, Bildhauerei und Malerei fließt in seine skulpturale und ma-lerische Architektur ein, die Atmosphären in einem Tanz aus festen Volumen wiedergibt, geprägt von einem packenden Rhythmus und Melodie. Seine Arbeiten sind Skulpturen, die ihr Aussehen durch die Farbe und ihre Gestaltung durch Licht erhalten. Sie werden zu emotionalen Erlebnissen, die alle fünf Sinne gleichermaßen ansprechen. Auf dieser Sinnesreise laden uns seine Bauten ein zu meditieren, der Stille zu lauschen, die Mate-rialien zu fühlen und die rauen Oberflächen der Wände zu streicheln, um anschliessend in deren Schatten zu baden und die lebendigen Farben einer Palette zu genießen, die von Tradition und Moderne gefärbt ist.

Luis Barragán war ein nahezu autodidaktischer Architekt. Alle Steinchen, aus denen sich sein kreatives Mosaik zusammensetzt, wurden durch Kontakte, Gespräche, Reisen und Freundschaften mit Künstlern und Dichtern geformt. Der Gartenarchitekt Ferdinand Bac, das Werk von Le Corbusier, die Gemälde von Jesús Reyes Ferreira, die Skulpturen von Mathias Goeritz und die Ateliers von Josef Albers sind nur einige der Welten, die der me-xikanische Architekt auf seinen Reisen in das grenzenlose kreative Universum bereiste.

Die Farbpalette und das Licht, das diese zeichnet, sind ein grundlegendes Element des Mosaiks, welches den Stil und die Persönlichkeit Barragáns porträtiert. Wer Barragáns Architektur betritt, begibt sich auf eine emotionale Reise, aufgehoben in Zeit und Raum, in der man durch seine lebhaften Farben und die instabile Kinetik der Farbe zur Materia-lität der Oberflächen gelangt, bevor man in eine Aufeinanderfolge von Räumen hinab-steigt, die uns durch ihre mystische und meditative Kraft überraschen und gleichzeitig schützen können.

Seine Bauwerke ähneln einem „Geschenk“. Vom farbigen Papier, das sie umhüllt, über die Schachtel, die sie enthält, bis hin zum letzten Geschenk, der Überraschung: ein „Farbgedicht“. Eine Architektur, die mit Ideen und Emotionen gebaut wird, nicht nur mit Formen und der Suche nach Funktionalität. Denn es sind die guten Ideen, die die Archi-tektur zum Ausdruck einer Kultur, einer Epoche und einer Gesellschaft machen. Luis Barragán war in der Lage, mit der Architektur zu spielen, sie als Werkzeug zu benutzen, um mit neuen Ideen zu experimentieren, neue Emotionen und die vielfältigen Tonalitäten, aus denen sie bestehen, zu erleben. Seine Werke sind wie eine Theateraufführung, Ku-lissen, die mit dem Publikum sprechen und kommunizieren. Inszenierungen, die mit ei-nem perfekten Gleichgewicht aufgebaut und in Schönheit gekleidet sind, durchdacht und gestaltet, um zu überraschen, zu erregen und zu bewegen.

„Schönheit ist das Orakel, das zu uns allen spricht.“

Luis Barragán

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LUIS BARRAGÁN (1902– 1988), BARRAGÁN HOUSE, MEXICO CITY, 1948. ROOF-TERRACE (UNDATED PHOTOGRAPH, CA. LATE 1960S). PHOTO: ARMANDO SALAS PORTUGAL © BARRAGAN FOUNDATION, SWITZERLAND / PROLITTERIS, ZURICH

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LUIS BARRAGÁN (1902-1988) & MATHIAS GOERITZ (1915-1990), TORRES DE SATÉLITE, NAUCALPAN DE JUÁREZ, STATE OF MEXICO, 1957 (UNDATED PHOTOGRAPH, CA. 1960). PHOTO: ARMANDO SALAS PORTUGAL © BARRAGAN FOUNDATION, SWITZERLAND / PROLITTERIS, ZURICH