Über ein Eckhaus «Acacias» und ein Gebäude mit durchgehendem Hof in Plainpalais, Genf. Zwei kürzlich in Genf erstellte Gebäude geben dem Thema der Wechselwirkung und Solidarität zwischen Architektur und Stadt neue Aktualität. Die beiden Projekte bedeuten eine direkte Konfrontation mit morphologischen Gegebenheiten, bei denen an städtischen Orten, mitten in verdichteter und architektonisch bewusst gestaltetèr Bausubstanz, markante Punkte verstärkt werden. Sowohl beim Eckhaus der Architekten Brodbeck und Boulet als auch beim Gebäude an den Strassen Dancet und Carouge des Büros Annen, Siebold, Siegle und Stämpfli wurde der städtischen Situation Bechnung getragen. Deren offensichtliche Einfachheit wurde als relativ «gewöhnlicher» aufgefasst, der die gebaute Umgebung durch die Anerkennung des Werts der Strasse bestimmt; die Projekte gehen von der Beständigkeit und der Verstärkung dieses Werts der städtischen Strasse aus. Diese Leseart des Ortes berücksichtigt die Frontalität der Fassaden durch die damit verbundene Notwendigkeit der Strassenfluchten. In beiden Fällen bleibt die städtische Fluchtlinie ein Anhaltspunkt. Aufgabe eines jeden Projekts ist es, ungeachtet seiner Eigenheiten und seines architektonischen Ausdrucks die Strasse in ihrem Erscheinungsbild zu prägen. Das Eckhaus in «Acacias» steht auf einem sehr kleinen Grundstück', Relikt eines Parzellierungsplans der ehemaligen Überbauung des Geländes mit kleinen Einfamilienhäusern. Die Flerausforderung bestand darin, trotz der unterlassenen Neuparzellierung an der äussersten Ecke dieser Insel eine neue Nutzungsmöglichkeit aufzuzeigen. Diese Problematik hat mit der notwendigen Verdichtung der Stadt an Orten zu tun, die man als «Löcher der Stadt mit einer Fülle von Möglichkeiten» bezeichnen kann. In diesem Sinn zeigt der Plan typologische Möglichkeiten auf, auch wenn das Gelände eng begrenzt ist. Die Differenzierung der Wohnräume wurde durch die entsprechende Aufteilung von zudienenden und bediente Bäumen vorgenommen. Das Programm enthält die morphologischen Begeln des städtischen Ortes. Der grösste Aufenthaltsraum, das grosse Zimmer, wurde an die äusserste Gebäudeecke gelegt, so dass er dank dem Spiel der Transparenz den Blick auf die Strassen von jedem Wohnungsvorplatz aus freigibt. Die dem Grundriss zugrunde gelegte Symmetrie berücksichtigt die Gleichwertigkeit der beiden Strassen und somit der übrigen Parzellierungsinsel, von der das Gebäude nur eine der drei Ecken bildet. Der Bau mit durchgehendem Hof in Plainpalais wurde entsprechend den Vorgaben des von den gleichen Architekten projektierten Quartierplans realisiert. Es ging indessen darum, die bestehende Parzelle auf zwei Seiten - an der rue Dancet und der rue de Carouge - räumlich zu definieren, wobei man im ersten Geschoss einen halböffentlichen Hofraum bildete. Die Anordnung berücksichtigt die Vorgaben des Bauherrn: grosse Fläche für kommerzielle Nutzung im Erdgeschoss, einige Arbeitsräume und darüber Wohnungen. Jede Wohnung ist von der Strassen- zur Hofseite durchgehend, doch jede Strasse führt zu einer unterschiedlichen Wohnungstypologie: zentrales Treppenhaus an der rue Dancet und Laubengang zur Erschliessung von Maisonnettes an der rue de Carouge. Die Herausforderung bestand darin, über einem kommerziellen Zentrum mit seinen spezifischen, zwingenden Begeln der Komplexität diese typologische Ordnung aufzuzeigen. Diese Problematik weist auf die Mischung der Nutzungen und ihre vertikale Überlagerung hin, die fürdas städtische Phänomen und insbesondere fürdie rue de Carouge charakteristisch ist. Daraus resultiert an der rue Dancet ein konventioneller Wohnungsgrundriss, an der rue de Carouge die Lösurig mit Wohneinheiten. Die inhaltlichen Unterschiede der Nutzung und der Situation in der Stadt kommen an beiden Bauten a,uf eigene Weise zum Ausdruck. Das Gebäude in «Acacias» vermittelt ein Erscheinungsbild, das sich auf die traditionelle Architekturpraxis in den Quartieren der Post-Fazisten mit ihrer den kleinen Genfer Gürtel sprengenden Bautätigkeit bezieht. Die Fassade nimmt das auf, was der Architekt «die fundamentalen und emotionalen Werte» einer doppelten Sehweise nennt: jener des Gebäudes als Ganzes und jener ihrer kleinmassstäblichen Ausbildung (Baikone, Fenster usw.). Diese doppelte Sicht führt dazu, dass sich die von Bescheidenheit • geprägte morphologische Ausbildung und eine manchmal in. gewissen markanten Punkten «heroische» Architektur treffen: ■ Diese bestehen im Ausdruck des seitlichen Gebäudeeingangs und
der runden Form der Gebäudeecke. Der Eingang wird durch einen Bruch mit dem Erscheinungsbild des historischen Bezugsrahmens signalisiert, und von aussen suggeriert er das Innenleben des Gebäudes. Durch die Wahl einer konvexen Kreisgeometrie, die die Flucht zu den beiden seitlichen Strassen akzentuiert, entspricht die Ecke dem Gepräge der städtischen Situation. Mit der Dacharchitektur wird Kritik am gegenwärtigen Genfer Gesetz über die Dachwohnungen geübt, denn das Gebäude schliesst oben mit einem Terrassenaufsatz ab. Der Bau an den Strassen Dancet/Carouge erhält seinen Fleroismus dadurch, dass er mit dem architektonischen Ausdruck der baulichen Umgebung, in die er eingefügt worden ist, bricht. An der rue Dancet interpretieren die Architekten die horizontal geschichteten Nachbargebäude aus den 60er Jahren neu. Der Bruch besteht darin, dass die Schichten dieser Gebäude durch eine variable Fassadentiefe in «Wellenbewegung» versetzt werden. Voll und Hohl folgen sich, basierend auf einer Geometrie aus konvexen und konkaven Kreissektoren. Sollte eine solche geometrische Ordnung der Gebäudehülle nicht auch zu besonderen, von aussen signalisierten Orten im Gebäudeinnern führen, wenn die Formkomposition Von aussen lesbar ist und sie ihre eigenen Gestaltungsregeln gefunden hat (Dachabschluss, seitliche Zentralität usw.) ? Der Projektierende hat es unternommen, mittels einer Architekturtheorie nach einer Bedeutung der Fassade zu suchen, ohne diese jedoch mit Inhalten festzulegen, die eine Reverenz an Borromini implizieren. Die Ausbildung der Fassade auf der Seite der rue de Carouge bietet im Gegensatz zur rue Dancet durch eine grossmassstäbliche Stützenordnung an der Strasse einen vertikalen Rhythmus der Unterteilung. Diese grossmassstäbliche Ordnung berücksichtigt drei Nutzungen: Handel, Büro und Wohnen, die, zurückversetzt, eine Schattenzone bilden. Im Gegensatz zum Balkon überder Strasse soll mit dem der einzigen Strassenfluchtlinie untergeordneten Laubengang versucht werden, einen verborgenen Raum zu bilden. Die grossmassstäbliche vertikale Ordnung spielt mit der Horizontalschichtung der ersten zwei Geschosse. Sie zeigt sich beim angrenzenden Gebäude am Schacht mit den vertikalen Versorgungssträngen. Beim«Bauen derStadt»sind diese beiden Experimente also aufgrund von morphologischen Überlegungen, die den baulichen Rahmen in der Kontinuität der städtischen Tradition der Strasse und des Grundstücks bestimmen, vorgenommen worden. Der Grundriss ordnet sich ihnen unter, und der«Unterschied»zeigt sich an der Fassade, die als wirklicher Raum begriffen wird.
Die Proportionen der goldenen Regel von 5 x 5 x 8 m scheinen diesem, an einer Wegkreuzung gelegenen Häuschen den Schein der Perfektion zu verleihen. Seine Lage kann trotz der Einengung, aber dank der Schlüsselstellung als glücklich bezeichnet werden. Auf alle Fälle hatte der erste Besitzer, César-François de Constant, seine helle Freude daran, als er dem Architèkten Henri Perregaux 1814 den Auftrag dazu erteilte. Als neogotische Kapelle verkleidet, diente es als Pförtnerhaus zum damaligen Herrschaftsgut «Grosse Grange», später«Beau Cèdre»genannt.
Der heutige Besitzer beauftragte seinen Sohn, den aus Brasilien zurückgekehrten Architekten Jacques Gross, das Häuschen auf eine moderne Komfortstufe zu bringen. Wie de Constant hat sich Gross amüsiert, diesmal mit sparsamen «high-tech»-Eingriffen wie Spannkabel bei abgeschnittenen Balken, ein um den First herum abgekröpftes Kaminrohr, eine auf Fachwerk auskragende Tischplatte, eine metallene Spiraltreppe, ein eingelassenes Neonrohr, Halogenspotleuchten, eine Gitterrosttreppe im Garten. Die Auflistung dieser Eingriffe genügt nicht, um den Geist zu erklären, der dahinter liegt. Gross erkannte, dass es sich hier gewissermassen um ein Schiff handelte mit seiner unabdingbaren Symmetrie und seiner äussersten Sparsamkeit in den Massen. Diese Erkenntnis legt sich nieder in den in 3 Weisstönen gehaltenen Einbauten und ihrer exakten Positionierung. So hat Gross den vorgegebenen neogotischen Stil über die Romantik eines Ruskin oder die Spielereien eines de Constant hinaus gezüchtet und damit zweifellos ein kleines Kunstwerk vollbracht. Pierre Zoelly (Siehe S. 13-16) Architekt BSA/SIA