Architecture Suisse

EDITO

Bauen ohne Baugrund?

Bühne frei für Emmanuel Rey, Professor an der EPFL

Für diesen Leitartikel erteilt AS Herrn Professor Emmanuel Rey das Wort. Er äussert sich zum Thema Aufstockungen (siehe das Projekt auf S. 31). Ein Thema von grosser Aktualität, das wir auch in den folgenden Nummern behandeln werden.

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© Kemetic Blue

Bauen ohne Baugrund?

Die Tendenz in unserer gebauten Umwelt zu mehr Nachhaltigkeit
schafft eine neue Dynamik der Übergänge, und dies sowohl
beim Thema der polyzentrischen Restrukturierung der bebauten
Zonen als auch bei der Entkarbonisierung urbaner Systeme oder
in Form eines proaktiven Vorgriffs auf unsere gesellschaftlichen
Modelle. Hierzu steht das architektonische Entwerfen in einem
dialektischen Zusammenhang. Auf der einen Seite kann damit,
durch seine Möglichkeit zu neuen Vorschlägen, ein signifikanter
Beitrag zu diesen Wandlungen geleistet werden. Andererseits
stellen diese Herausforderungen einen „Rohstoff“ im begrifflichen
Sinne des Themas dar, mit dessen Hilfe mehrere seiner Vorgehensweisen
in einer multidimensionellen, multi-masstäblichen
und interdisziplinären Betrachtungsweise neu überdacht werden
können. In diesem Themenbereich nimmt die Suche nach Strategien
zur intelligenten Verdichtung des städtischen Territoriums
und der damit möglichen drastischen Verminderung von Treibhausgasen
einen bevorzugten Platz ein. Parallel zur Erschliessung
neuer Quartiere auf brachliegenden Flächen oder der Ausfüllung
von Baulücken ist es unumgänglich, sich hier des umfangreichen
Baubestands anzunehmen. So werden die Arbeiten am Bestand
eine immer umfangreichere Aufgabe für die Architekten – von
der einfachen Sanierung bis zu weitgehenden Umbauten, oft
mit der Erweiterung des ursprünglichen Bauvolumens. Bei dieser
Auswahl an praktischen Möglichkeiten im Herzen unserer europäischen
Städte steht die Aufstockung eindeutig im Vordergrund.
Sie erlaubt es, neue Nutzflächen zu schaffen ohne zusätzlichen
Baugrund und damit ein weitgehend ungenutztes Potenzial aufzuwerten.
Hier können vom Projektbeginn an architektonische
Qualität, funktionelle Anpassungsfähigkeit und intelligente
Verwendung bestehender Ressourcen zum Tragen kommen und
damit die Kriterien von Nachhaltigkeit auf mehreren Stufen erfüllen.
Auf der Stufe des städtischen Lebens resultiert daraus eine
Förderung der Urbanität mit der Nähe zum öffentlichen Nahverkehr.
Was das Bauwerk betrifft, können Typologien entstehen,
die neuen Anforderungen zu Wohn- und Arbeitsräumen gerecht
werden. Schliesslich können neue Bauweisen dazu beitragen, erneuerbare
Energien mit einzubeziehen, begrünte Dachflächen zu
schaffen und Materialien mit günstiger Ökobilanz zu verwenden.
Und trotzdem ist jede Aufstockung eine architektonisch einmalige
und komplexe Herausforderung. Der erscheinungsmässige Bezug
zum bestehenden Bauwerk – zwischen seiner Fortführung, einem
gewollten Kontrast oder einer Lösung dazwischen – erfordert eine
intensive Auseinandersetzung mit der Aufgabe, um mit Geduld
und Fingerspitzengefühl die ideale Lösung zu finden.

Emmanuel Rey
Professor EPFL / Direktor, Laboratorium für Architektur und
nachhaltige Technologien LAST / Partner, Bauart (BE, NE, ZH)