Architecture Suisse

EDITO

Wenn ein Bau vom Volk geliebt wird | Thomas Lussi

AS_illustration_sajo_final_print.jpg

© Samuel Jordi

Wenn ein Bau vom Volk geliebt wird

Bauen ist immer eine öffentliche Angelegenheit. Deshalb konstruieren wir Baugesetze, Regeln und Normen, welche ein geregeltes Bauen garantieren sollen. Der Anspruch, dass Architektur die Umwelt verbessert und nicht zerstört, oder wie im Sinne von Luigi Snozzi formuliert, dass Architektur zum Nutzen der Gesellschaft gereichen soll, bewahrheitet sich in heutigen Bauboom zu oft als Wunschdenken.

Die immense Zersiedelung der letzten Jahrzehnte hat nicht nur die Peripherie der Städte erreicht, sondern auch die ländlichen Gemeinden. Es macht betroffen, wenn einst intakte Dorfkerne zu charakter- und massstabslosen Agglomerationen verunklärt werden. Um dies zu verhindern, genügen auch gutgemeinte Reglemente und Normen zu wenig. Gutes Bauen auf dem Land, das muss man fördern und fordern. Immer noch ist dort das Bauen oft in den Händen von Bauträgern, welche, gut vernetzt mit der örtlichen Politik, die beste Rendite vor die gute Architektur stellen. In den Städten ist die Erkenntnis gewachsen, dass man behutsam mit spärlichem Land und dem gebauten Kontext umgehen muss. Baukultur gehört nun zum politischen Programm der Stadtplanung. Bauen muss dort auch für die Gesellschaft einen Mehrwert generieren. Und dieser wird heute zu Recht vom Volk eingefordert. Der öffentlich zugängliche und gut gestaltete Aussenraum zum Beispiel ist als Grundbedürfnis erkannt und wird immer mehr berücksichtigt.

Es gibt nichts Besseres für ein allgemeines Verständnis von Baukultur als gute Bauten. Deshalb hat die öffentliche Hand eine Vorreiterrolle bei ihren Bauaufgaben. Das schweizerische öffentliche Submissionswesen mit einem funktionierenden Wettbewerbssystem ist da positiv zu erwähnen. Dies erst ermöglicht die gute Qualität der öffentlichen Bauten. Da sind die städtischen Gebiete den ländlichen voraus.

Dass man manchmal nachhelfen und Allianzen schmieden muss, um Baukultur zu bewahren, zeigt das Beispiel der Erneuerung und Erweiterung der Zentralbibliothek in Luzern (s. Seiten 13 in diesem Heft). Das Gebäude aus dem Jahre 1951 ist ein emblematischer Zeitzeuge der Schweizer Nachkriegsarchitektur. Auch dieses Gebäude wurde damals über einen Wettbewerb auf Einladung ausgewählt, wobei der Architekt des erstrangierten Projektes wegen Zerwürfnis mit der Bauherrschaft ausgewechselt und mit dem Zweitrangierten weitergeplant wurde. Otto Dreyer, ein engagierter Architekt aus Luzern mit grosser Erfahrung bei öffentlichen Bauaufgaben, erbaute die Bibliothek inmitten des Neustadtquartiers auf dem ehemaligen Gaswerkareal. Sie erhielt internationale Aufmerksamkeit wegen der architektonischen Gestaltung sowie dem neuartigen, modernen Bibliothekskonzept und wird auch  heute noch von der Luzerner Bevölkerung geschätzt. Nach einigen Anläufen wurde im Jahre 2007 ein Wettbewerb für eine Gesamtsanierung ausgeschrieben. Das Projekt mit dem Namen „Soleil, lumière et l’air“ von den Architekten Lussi+Halter wurde dann bis zum Bauprojekt weiterverfolgt.

Obwohl das Baugesuch 2010 eingereicht wurde, sollten bis zum Baustart noch viele Monate vergehen, denn eine im Kantonsrat im Dezember 2011 überwiesene Motion forderte den Abbruch und Neubau der ZHB Luzern. Hier manifestierte sich der Stadt- Land-Konflikt im Luzerner Parlament. Für die einen war die ZHB ein alter, nicht mehr effizienter Bau, der durch einen grösseren Neubau ersetzt und über zusätzliche Nutzungen ’public-private’ finanziert werden sollte. Für die anderen war das Gebäude ein nicht mehr wegzudenkendes Monument innerhalb einer beliebten Grünanlage inmitten der Stadt. Die Planerverbände opponierten gegen den Abriss. Die Aufforderung des BSA (Bund Schweizer Architekten), die Teilnahme an einem Wettbewerb für einen Neubau zu boykottieren, war einmalig. In der Stadt wurde zudem ein Bürgerkomitee gegründet, welches eine Initiative zum Erhalt und zur Unterschutzstellung der ZHB Luzern lancierte. Mit einer Mehrheit von 75,6 Prozent wurde diese Initiative angenommen. Die Neue Luzerner Zeitung schrieb von einem „Machtwort des Volkes“ im ZHB-Streit. Das klare Resultat zeigte die starke Verbundenheit der Stadtbevölkerung mit dem jungen Denkmal und seinem zentralen Standort mitten im Vögeligärtli.1

Im Jahre 2017 konnte dann endlich mit dem Umbau gestartet werden. 2019 wurde die ZHB in neuem Glanz wieder in Betrieb genommen. Nun waren die Meinungsverschiedenheiten vergessen und die damaligen Gegner revidierten ihre Argumente und stimmen nun in den allgemeinen positiven Konsens ein.

Das Beispiel zeigt, wie ein öffentlicher Bau als Teil des Kulturverständnisses angenommen wird, für das man kämpfen muss. Es zeigt auch, dass öffentliche Bauten die Funktion von Objekten wahrnehmen, welche die Identität des öffentlichen Raumes prägen und bestimmen, ganz im Sinne des Stadtbegriffes von Aldo Rossi. Er präsentiert die Stadt als gebautes Archiv des kollektiven Gedächtnisses. Entscheidende Bedeutung kommt dabei den öffentlichen Bauten und Plätzen zu. Sie werden zu Monumenten, welche eine Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegenwart und eine Identifikation mit dem Ort ermöglichen.

Thomas Lussi, dipl. Architekt ETH SIA BSA, Luzern, 24. Mai 2021

1 Siehe: Cony Gründenfelder: „Otto Dreyers Werk fortgeschrieben“. In: ZHB Denkmalpflegerische Erneuerung. Luzern: Quart Verlag 2020, S. 64