Farbenbaukunst
In der deutschen Sprache wird Architektur auch Baukunst genannt, die Kunst des Bauens. Zwei Begriffe: Kunst und Bauen. Während im Bauen, im Gebauten, verschiedene Aspekte und Faktoren nötig sind, dass ein Bauwerk finanziert, bewillligt, gebaut und benutzt werden kann, ist die Kunst – scheinbar – von Allem befreit: Fläche, Volumen, Material, Objekt, Licht, Materie, Farbe…alles ist Idee und Konzept für die Kreation zur: Kunst. Und doch ist wie das Bauen auch die Kunst ein Zusammenspiel mannigfaltiger Aspekte und Prozesse, eine komplexe Struktur von Produktion, Rezeption und symbolischen Werten.
Aber gerade im Aspekt der „Nutzung“ unterscheiden sich beide Künste doch wieder wesentlich: Kann ein Kunstwerk auch genutzt werden und funktioniert die Architektur auch, wenn ihre Nutzung nicht möglich ist? Architektur war immer Teil der Kunst: als Ort der Konzeption und Herstellung, der Präsentation und Rezeption, der Lagerung und Aufbewahrung. Und auch Architektur hat sich immer mit der Kunst liiert, über die Integration von Objekten und Bildern zur Dekoration, Auschmückung oder in der Neuzeit durch die Integration von strukturellen und visuellen Phänomenen, die nur die Kunst wirklich leisten kann, denn: ihre Nutzung definiert sich hauptsächlich über immaterielle und ideelle Werte.
Architektur und Kunst beide erarbeiten dies mit Hilfe von Materialien und Baustoffen und deren spezifische Qualitäten machen das Bauen und die Kunst erst möglich: Bauen und Kunst ist Material und immer auch: Farbe. Materialfarben sind unzertrennlich mit Bauen und Bauteilen verbunden und Farbe ist unzertrennlich mit Kunst verbunden, als Farbanstrich oder Materie eines Objektes oder grundsätzlicher, Teil jeder visuellen, künstlerischen Erscheinung. Man könnte behaupten, Architektur ist immer mit der Kunst verbunden sowie mit Material und dessen Farbe. Architektur wäre also eine materialisierte Farbe im Raum, die Kunst des Bauens ein materialisierter Farbenraum, ein Farbenbau. Architektur wäre also ein Bau der Farbe denn, ist nicht jedes Gebäude und Gebaute auch ein Raum der Farbe?
In der langen Architekturgeschichte, welche gleichzeitig die Geschichte der menschlichen Kultur ist, war Farbe immer präsent. Direkt oder indirekt, dezent oder dominant, integriert oder dissoziiert, im Material verankert und über Materialien vermittelt oder, gänzlich freigestellt und als Bild oder Objekt sichtbar. Die Architektur hat sich der Farbe angenommen, um sie zu umarmen oder zu verbannen, sie über das Material zu definieren und
zu lenken: Wie das Wort Baukunst kommt Bau vor Kunst und nicht etwa umgekehrt, die Kunst vor dem Bau. Ein Kunst-Bau wäre also etwas anderes als die Bau-Kunst: Ein Farbenbau, wo jedes Element eine andere Farbe hätte, losgelöst vom Material und vom Bauteil, zum Beispiel.
Farbe dissoziiert vom Baustoff und Bauelementen, von Objekten oder Nutzung. Farbe als Gesamtkunstwerk das den Bau umgarnt, umschliesst: Boden und Wand, Decke, Objekt und Fassade, Dach. Fenster und Stuhl und Türe, Eingang und Ausgang, Lampe, Türgriff und Schalter. Aussen und Innen, Oben und Unten. Bodenbelag und Wandfarbe, Küche wie Gang und Hof, Zimmer und Lager wie Halle und Garten: Einen totalen Farbenraum. Einen Raum der Farbe, einen Kunstbau: Farbenbaukunst.
Karim Noureldin
Liebe Leserin, lieber Leser,
dies ist unsere letzte und in der Tat farbenreiche Ausgabe in diesem Jahr, welche unsere neue Rubrik mit AS Mundi eröffnet, die sich mit internationaler zeitgenössischer Architektur befasst.
Ein herzliches Dankeschön an Karim Noureldin, der uns 2021 vier fantastische Titelseiten geschenkt hat und AS in eindrucksvolle Kunstwerke verwandelt hat.
Ebenso möchten wir Françoise Jaunin und ihrer feinfühligen Schreibkunst danken, sowie David Tremlett, Carmen Perrin, Federico Babina und Giulio Vesprini.
Wir wünschen Ihnen allen frohe Festtage und einen guten Start in das neue Jahr! 2022 werden wir unser 50-jähriges Jubiläum feiern, ein besonderes Jahr!
P.S. Passend zu dieser Ausgabe, laden wir Sie ein, den Text von Alberto Sartoris „Das Problem der Farbe in der Architektur“ in der AS 121 Ausgabe auf AS Encyclopaedia noch einmal zu lesen.