Die Bedeutung der Altstadt aus heutiger Sicht: Der Filmregisseur Edgar Reitz, Schöpfer eines kürzlich fertiggestellten 16-stündigen Filmepos mit dem Titel «Fleimat», äussert in einem Interview: « Kultur entsteht nur dadurch, dass man die Welt, in der man wirklich ist, auch gestaltet, Mobilität ist zwar etwas Schönes. Man kann die Welt sehen. Aber die Welt wäre leer, wenn nicht überall dort, wo wir hinreisen, Menschen wären, die ihr Lebenlang dort geblieben sind, und die diese Welt.schön gemacht haben... » Als Mitverantwortlicher für die Pflege einer sehr schönen und ausgedehnten Altstadt, welche im Verzeichnis der schweizerischen Kunstdenkmäler an wichtiger Stelle figuriert, komme ich immer wieder dazu, die Bedeutung unserer Altstadt in Worte fassen zu müssen. In diesem Sinne ist das obige Zitat eine interessante Aussage, welche zum Phänomen der Altstadt als einer von Menschen gestalteten Umwelt passen könnte. So ist das vertraute stets neu einprägsame Bild der historischen Gassen und Plätze für Viele Ausdruck wirklicher Heimat. Ich kann auf eine starke emotionale Zustimmung breiter Bevölkerurigskreise zählen, wenn es darum geht, die Altstadt so wie sie ist zu pflegen ; ich muss jedoch mit Gegnerschaft rechnen, wenn irgend etwas, und sei es auch noch so wohlbegründet, verändert werden sollte. Die Altstadt ist zum Symbol der noch heilen Stadt geworden, ein Ort besonderer Identifikation des heutigen Menschen mit seiner in vielen Teilen bedrohten Umwelt. Aus dieser Optik wird verständlich, weshalb für Belange der Erhaltung oder Verschönerung der Altstadt weit mehr öffentliche Mittel als für irgendwelche andere vergleichbare Vorhaben fliessen. Damit ist noch keineswegs gesagt, dass für Notwendiges und Wünschbares in der Altstadt genug öffentliche Mittel vorhanden wären. Bauen in der Altstadt : So statisch die Auffassung vom Bauen in der Altstadt in breiten Bevölkerungskreisen sein mag, so deutlich ist festzustellen, dass das Pendel der Auffassungen, wie in der Altstadt zu bauen sei, nach einer sehr konservativen, ängstlichen Phase wieder einige Ausschläge in Richtung zeitgemässe Architektur zeigt. Auch wenn die Pflege der historischen Formensprache in der Altstadt nach wie vor bei Neu- und Umbauten praktiziert wird, unbestritten ist diese Praxis nicht mehr. Wir.sind uns auch in Aarau bewusst geworden, dass zumindest in einzelnen Teilen der Altstadt und in deren Randgebieten eine angepasste zeitgemässe Lösung erwogen werden kann. Diçse freiere Auffassung, welche auch einzelne Möglichkeiten heutiger Technik nicht verschmäht, geht auf den unüberhörbaren Ruf nach architektonischer Ehrlichkeit zurück. So ist der vorderhand nicht ausgeführte Vorschlag eines freistehenden Kopfgebäudes am neu gestalteten Färberplatz in Aarau vom Atelier Hertig + Partner eine klare Absage an einen künstlichen Historismus. Es wird ein «modernes» Haus gewagt. Die Proportionen des Baukörpers und die Formensprache der Einzelelemente haben dafür zu sorgen, dass das neue Haus in die Altstadt passt. Diese Art zeitgemässen Denkmalschutzes ist - zum Glück möchte man sagen — hier und dort wieder möglich. Wichtig ist dabei, dass die alte Bausubstanz als solche erhalten bleibt und durch neue, moderne, vielleicht sogar kontrastierende Elemente angereichert wird. Es gibt sehr schöne Beispiele dieser Art in vielen historischen Städten. Diese Form des Umgangs mit historischer Substanz erfordert allerdings eine hohe Qualität der Neubauten und viel Fingerspitzengefühl. Wehe, wenn ein schlechter, unsensibler Architekt seine Aufwartung macht; ein einziger Versager kann jedes Wohlwollen für derartige Lösungen zerstören. Lässt man den «modernen» Architekten etwas Raum für zeitgemässe Aussagen, so wird das Problem des Bauens in der Altstadt natürlich noch vielschichtiger und komplizierter; ich ziehe aber diese Schwierigkeiten der Durchsetzung einer streng historisierenden Auffassung, bei welcher auch immer etwas Resignation mitschwingt, vor. Die Hinterfragung des Traditionalisten nach Ehrlichkeit und Lebendigkeit ist ebenso notwendig, wie die Frage an den Modernen nach seinem Respekt und seiner Anpassungsfähigkeit gegenüber historischer Baukunst; beide Haltungen bilden Pole jeder lebendigen städtbaulichen Auseinandersetzung. Ausblick: Es scheint heute bald selbstverständlich, dass eine Altstadt vèrkehrsfrei oder zumindest verkehrsarm ist. Darum wird sich ein Aussenstehender wundern, wenn hier auf die umfangreichen laufenden Anstrengungen zur Umfahrung und Verkehrssanierung unserer Altstadt hingewiesen wird. In der Tat hat die Stadt Aarau den zwar seit langem angestrebten Zustand der verkehrsarmen Altstadt noch nicht erreicht. Schwierige Umstände, Uneinigkeit über die zu treffenden Massnahmen mit einer Vielzahl verschiedenster Konzepte haben bisher eine Lösung verhindert. Man darf für den Fall eines späten Erfolges nicht einmal auf Beifall hoffen. Hoffen darf man jedoch auf die unwiderstehliche
Anziehungskraft unserer heute verkehrsgeplagten Stadt, wenn die Umfahrung funktioniert, das Parkierungsproblem gelöst-sein wird und die verkehrsbefreiten Gassen und Platze ihre ganze Schönheit entfalten dürfen. Markus Grob, dipl. Arch. SIA/BSP Stadtbaumeister Aarau
Gedanken zur «Altstadtsanierung» Die Grundstruktur der Altstadthäuser stammt in der Regel aus der Bauzeit, ist also 300 bis 500 Jahre alt. In der Folge sind die meisten Bauten mehr oder weniger verändert worden. Heute wird saniert. Das hiesse eigentlich «wieder gesund machen». Bauherrenwünsche und Bauordnungen verlangen oft Massnahmen, welche solche Altbauten eher krank als gesund machen. Was ist schon Gesundes an einem Neubau, der noch eine alte Fassade als Maske trägt, aber sonst kaum etwas gemein hat mit seinem ursprünglichen Vorgänger? Statt «Sanierung» wäre wohl besser die «Wiederbelebung» als Ziel zu nennen. Eine Wiederbelebung setzt voraus, dass der Organismus zunächst erkannt wird. Welche Teile sind kranke Wucherungen ünd unpassende Prothesen? Was ist es wert, erhalten zu werden? Was ist es wert, ersetzt zu werden? Wer sich liebevoll um das Erhalten kümmert, gerät bald, einmal in die Versuchung zur Nachahmung. Im Extremfall gleichen dann die Produkte einem Wachsfigurenkabinett: Gekonnt nachgemacht, aber tot. Altstadt lebendig erneuern heisst deshalb zum vorneherein auch verzichten. Nicht auf vernünftige sanitäre Einrichtungen und massvolle feuerpolizeiliche und schalltechnisöhe Massnahmen. Aber sicher auf gewalttätige Umkrempelung der Tragstruktur, vielleicht auch auf den Aufzug oder auf eine maximale kommerzielle Ausnützung Verzicht ist auch erwünscht in der Materialwahl: Natürliche Baustoffe wie Holz, Tonprodukte, Naturstein, Naturfasern und Kalkverputze sind immer kooperativer als Kunststoffe und Metalle. Eine gut erhaltene sichtbare Balkenlage, die nur noch Verkleidung ist, weil darüber eine neue Massivdecke erstellt wurde, wird dann zur Maskerade verurteilt. Beim publizierten Umbau des Hauses an der Rathausgasse, dass im Volksmund wegen seiner Grundrissform «Schmales Handtuch» hiess, versuchten wir alle Tragstrukturen (Bruchsteinmauern, Balkendecken, Dachkonstruktionen) zu erhalten. Eine einzige Zwischendecke musste durch eine Massivdecke ersetzt werden, weil Raumhöhe und Niveaudifferenzen untragbar geworden wären. Einzelne. Holzkonstruktionen und Balkenlagen mussten verstärkt werden, damit sie den schalldämmenden Estrich aufnehmen konnten. Wandverputze sind durchwegs als gestrichene einschichtige Kalkverputze ausgeführt. Decken- und Wandmalereien aus dem 1 7. Jahrhundert konnten restauriert werden. Die Erneuerung von alten Teilen der Altstadt gehört zu den dankbaren Aufgaben eines Architekten, sofern die Auftraggeber Verständnis für das «Wiederbeleben» haben. Neubauten in der Altstadt gehören dafür zu den interessantesten Arbeiten. Nur dankbar sind sie meistens nicht, eher dornen- und risikoreich. Die Geschichte der Neubauprojektierung auf dem Färberplatz ist ein Beispiel dafür. ■ Gotthold Hertig Architekt SIA Aarau
Sehr geehrter Herr Krafft Zum Thema « Umbau» möchten Sie von mir «theoretische» Aussagen haben. Nun schreibe ich Ihnen diesen Brief und will versuchen, ein paar Gedanken zu notieren, von denen ich mich bei den Eingriffen am Haus im Altenberg leiten liess. Bei der Bestandesaufnahme stellten wir fest, dass der Dachstuhl, eine streng geformte Zimmermannskonstruktion aus dem 1 7. Jahrhundert, der am besten erhaltene Gebäudeteil war. Er überspannt, eineinhalb Geschosse hoch, eine Bodenflache von 6 m x 12m und lagert auf den traufseitigen Riegwänden des Obergeschosses. Die Innenwände, womit das Rieghaus über dem massiven Sockelgeschoss in drei senkrecht zur Firstrichtung liegende Zonen gegliedert war, hatten keine Tragfunktion. Auf der Südseite, dem Strassenraum zugewandt, weist das Dach die «Ründi», ein typisches Merkmal bernischer Baukultur, auf. Ein Sgraffito - vermutlich bei einer Renovation im letzten Jahrhundert aufgezogen — schmückt mit bukolischen Motiven die Strassenfront des Hauses. ti