„Die Erde war tohuwabohu“1, berichten uns die ersten Verse der Bibel. Dies wurde oftmals mit dem Zustand des „Nichts“ oder „Chaos“ übersetzt, in anderen Bibelkommentaren wird jedoch deutlich, dass es sich eher um das Urmaterial handelt, aus dem die Welt erschaffen wurde: ein rohes, ursprüngliches, verwobenes, vielseitiges, polymorphes Material... Eben dieser vielfältige, unterschiedliche und heterogene Charakter der irdischen Materie machte ihre ganze Fruchtbarkeit aus. Doch heute, da wir diese ursprüngliche Hybridität anscheinend vergessen haben, taucht sie in unserem Alltag in tausenden kleinen Signalen wieder auf, die auf einen großen Trend in unserer Welt von Morgen hinzudeuten scheinen. „Der Begriff Hybridisierung“ 2 steht für diese unwahrscheinliche Verbindung, d. h. für das Verschmelzen von Berufen, Künsten, Wissenschaften, Zielen, Kompetenzen, Generationen, Aktivitäten, Sektoren, Materialien, Nutzungen und Zutaten, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein hatten oder miteinander zu tun hatten oder gar widersprüchlich erschienen, und welche gemeinsam neue Nutzungen, neue Materialien, neue Orte, neue Berufe, neue Modelle, neue Territorien, neue Formen der Verwaltung usw. hervorbringen werden. Alles in allem neue Welten!
In Schulen, Universitäten, Forschungslabors, Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen findet man immer mehr interdisziplinäre und sektorübergreifende Kooperationen. Neue Wohnformen entstehen durch Wohngemeinschaften im „Coliving“, bei denen Waschküche, Gästezimmer, Küche und Auto in einem Haus gemeinsam genutzt werden; Schulen auf dem Land verwandeln ihre Kantine in ein Restaurant für das ganze Dorf und öffnen ihre Türen für ältere Menschen, um ihnen den Umgang mit dem Computer beizubringen. Auf den Landkarten entstehen sogenannte „Dritte Orte“: ungewöhnliche Orte, die wirtschaftliche Aktivitäten mit wissenschaftlicher Forschung, sozialer Innovation oder kultureller Infrastruktur kombinieren. Zukünftig wird jeder Ort ein Dritter Ort sein und verschiedene Aktivitäten, Zielgruppen und Nutzungen miteinander verbinden: Dies wird Schulen, Museen, Restaurants, Hotels, Tourismusbüros, Rathäuser, Gründerzentren für Start-ups oder auch Ladenpassagen betreffen. Schon jetzt beobachten wir Bilderausstellungen in Einkaufszentren, Künstlerresidenzen in Hotels oder auch Kindertagesstätten in Altenheimen. Gleichzeitig sehen wir immer mehr völlig neue Partnerschaften zwischen Schulen, zwischen Unternehmen, zwischen verschiedenen Branchen... Wir erleben die Entstehung neuer Kombinationen und Wiedervereinigungen und diese Phänomene schaffen eine neue Solidarität, bahnbrechende Innovationen und bringen das, was künstlich getrennt war, einander näher.
Diese Hybridisierung der Welt macht jeden Dogmatismus und jeden Kult der Reinheit hinfällig. Was die Materialien betrifft, so macht die Fruchtbarkeit der Erde unsere Vorstellungskraft wachsam und kühn, indem sie sich dem Kontext, der Geschichte, der Berufung und dem Ort des architektonischen Projekts anpasst. Duktilität, Formbarkeit, Weichheit, Entflammbarkeit, Durchlässigkeit, Treibfähigkeit, Elastizität, Mischbarkeit, Leichtigkeit oder Schwere... Auch hier bringen neue Kombinationen und Wiederkombinationen von Materialien neue Materialien und Ideen hervor, wie jene, die in dieser Ausgabe vorgestellt werden, und öffnen die Tür zu weiteren Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten. Diese Hybridisierung kann verwirren, denn seit der Philosoph René Descartes uns riet, Schwierigkeiten in Stücke zu unterteilen, um sie besser lösen zu können, haben wir geglaubt, dass wir alle Probleme lösen können, indem wir sie in einzelne Stücke zerlegen! Das hat sich auf unsere Berufe, unsere Arbeitsorganisation, unsere Industrien, die Entwicklung unserer Wissenschaft, unsere Ausbildung, unsere öffentliche Politik, die Organisation unserer Studiengänge oder auch auf unsere Orte und unsere Entscheidungen im Bereich der Architektur ausgewirkt. Seit Aristoteles uns gelehrt hat, dass Logik darin besteht, das Identitätsprinzip (d. h. A ist A oder eine Katze ist eine Katze), das Prinzip der Nicht-Widersprüchlichkeit (d. h. A kann kein nicht-A sein) und schließlich das Prinzip des ausgeschlossenen Dritten (entweder A oder B, d. h. „aus zwei Dingen eines“) zu beachten, hat unser Gehirn, das in eine Fabrik zur Massenproduktion von Kästchen verwandelt wurde, gelernt, zu klassifizieren, zu etikettieren, zu kategorisieren und auszugrenzen3.
Die Erschöpfung bestimmter natürlicher Ressourcen und der ökologische Imperativ, die sozialen Veränderungen, die Entwicklung neuer Technologien, welche eine Umkehrbarkeit von Räumen, Nutzungen und Aktivitäten bewirken, stellen das Identitätsprinzip radikal infrage (eine Schule ist eine Schule, die abends und am Wochenende etwas anderes werden kann, zum Beispiel), die neuen Gleichgewichte zwischen Privat- und Berufsleben, insbesondere die Home-Office-Arbeit, stellen den Satz des Widerspruchs auf den Kopf („Ich bin physisch abwesend und doch virtuell anwesend“!), etc. Vorbei sind die Zeiten, in denen eine Schule eine Schule war, ein Theater ein Theater, ein Museum ein Museum, eine Wohnung eine Wohnung oder ein Büro ein Büro... Auch wenn eine Katze immer eine Katze bleiben wird! Alle unsere Orte fallen aus unseren Schubladen und wir werden sie nicht nur neu definieren, sondern auch neu erfinden und die Art und Weise, wie sie gebaut werden, neu erfinden müssen. Coliving, Coworking, Cofarming, neue Arten zu wohnen, zu konsumieren, zu arbeiten, zu lernen, sich zu versammeln, die Ausbreitung von dritten Orten, um ein paar Beispiele zu nennen. In diesem fruchtbaren Tohuwabohu könnte jedes Material der Erde seinen Platz, seine Legitimität und seine Berufung haben.
Der Philosoph Martin Buber schrieb, dass „der Mensch im Kontakt mit dem Du zum Ich wird“. Die Herausforderung der nächsten Jahre wird darin bestehen, all unseren Orten – Schulen, Büros, Wohnungen, Hotels, Museen, Bahnhöfen, Flughäfen, Strassen, Krankenhäusern, Geschäften, Altenheimen – wieder eine Seele zu verleihen, um sie zu Orten der Gastfreundschaft zu machen, zu Orten, an denen man sich orientieren kann, Orte, an denen wir nicht einfach nur nebeneinander existieren, sondern Orte, an denen wir uns ein kleines bisschen weniger allein, etwas weniger klein, mittelmässig und eng fühlen; hybride Orte, die uns den Geschmack des Andersseins wiedergeben4
Gabrielle Halpern5, PhilosophIN
1 GENÈSIS I : 2.
2 GABRIELLE HALPERN, „TOUS CENTAURES! ELOGE DE L'HYBRIDATION“ (OL B DER HYBRIDISIERUNG), LE POMMIER, 2020.
3 GABRIELLE HALPERN, „CRÉER DES PONTS ENTRE LES MONDES“ (BRÜCKEN ZWICSHEN DEN WELTEN BAUEN), FAYARD, 2024.
4 GABRIELLE HALPERN, «PENSER L'HOSPITALITÉ », EDITIONS DE L' AUBE, 2022 (MITVERFASST VON CYRIL AOUIZERATE).
5 DIE FRANÖZSISCHE PHIOL SOPHIN GABRIELLE HALPERN IST DOKTORIN DER PHOILSOPHIE UND ABSOLVIERTE DIE ÉCOLE NORMALE SUPÉRIEURE. SIE WAR IN VERSCHIEDENEN MINISTERIEN TÄTIG, BEVOR SIE EINEN INKUBATOR FÜR START-UPS MIT LEITETE UND UNTERNEHMEN UND ÖFFENTLICHE EINRICHTUNGEN BERIET. IHRE FORSCHUNGSARBEIT BEFASST SICH SEIT FAST FÜNFZEHN JAHREN MIT DEM BEGRIFF DER HYBRIDISIERUNG. SIE IST AUTORIN MEHRERER BÜCHER, DARUNTER DER ESSAY „TOUS CENTAURES! ELOGE DE L’HYBRIDATION“ (LE POMMIER, 2020), ’PENSER L’HOSPITALITÉ’ (GASTFREUNDSCHAFT DENKEN) UND ’CRÉER DES PONTS ENTRE LES MONDES’ (BRÜCKEN ZWISCHEN DEN WELTEN BAUEN) (FAYARD, 2024). ZUM WEITERLESEN:
Liebe Leserinnen und Leser von AS, ich freue mich, Ihnen unsere Themenausgabe Terra Firma präsentieren zu können. Wir haben eine vielfältige Auswahl an brillanten Persönlichkeiten zusammengetragen, ein jeder mit seiner eigenen Sensibilität, aber alle mit einer gemeinsamen Leidenschaft für das Bauen. Ich bin davon überzeugt, dass die Projekte, die Sie hier sehen werden, einen kleinen, aber spannenden Einblick in die Realitäten unserer zeitgenössischen Architektur bieten und dabei sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft blicken. Anstatt Ihnen eine einzige Vision aufzuzwingen, möchten wir Ihnen eine Reihe von intelligenten Anwendungen von Erdmaterial anbieten, wie eine Ausstellung, in der jedes Werk seine eigene Geschichte erzählt!
Ein besonderer Dank geht an Gabrielle Halpern, die uns im Leitartikel an ihrer Philosophie teilhaben lässt. Die Architektur von heute ist von kreativen Talenten geprägt, bedarf aber dennoch eines Leitfadens. Fernab von politischen Intrigen und wirtschaftlichen Interessen ist die Philosophie von entscheidender Bedeutung, um unsere Welt zu verstehen und die Welt von morgen ins Auge zu fassen. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass sich der Preis von AS seit vielen Jahren nicht verändert hat, obwohl unser Angebot insbesondere durch die AS Encyclopaedia bereichert wurde. Dennoch muss ich zu Einsparungen navigieren. In den letzten Jahren haben wir wichtige AS-Ausgaben (wie H2O, Diary of India, 50 Jahre AS usw.) herausgegeben, eine Reise an Bord eines soliden, aber kleinen Segelschiffs durch bisweilen stürmische Gewässer. Ich erwäge daher, unsere 40 Projekte und 200 Seiten zu erhalten, diese aber auf drei Ausgaben pro Jahr zu reduzieren. Möglicherweise werden die YOUNG-Projekte sogar auf einen ausschließlich digitalen Vertrieb umgestellt. Hierüber gilt es nachzudenken!
In diesem Jahr wird es drei Ausgaben geben mit insgesamt 41 Projekten, die auf 240 Seiten Papier veröffentlicht wurden. Wir sehen uns Anfang 2025 für ein neues architektonisches Abenteuer! Ohne Sie wäre diese Ausgabe nicht möglich gewesen. Ein grosser Dank an das AS-Team, Françoise Jaunin, Fanni Fetzer, Yves Dana, Leo Fabrizio, Leone Carlo Ghoddusi, Roberto Bixio, Salvatore Aprea, Niklaus Graber, Alberto Caruso, Danilo Mondada, Giordano Tironi, Andrea Bassi, Pierre-Alain l’Hôte, Laurent de Wurstemberger, Marlène Leroux & Francis Jacquier, Gian Salis, sowie alle hier anwesenden ArchitektInnen, IngenieurInnen und HandwerkerInnen.