1. Zwei Ratsherren suchen Sanchos Esel, der sich verlaufen hat. Sie steigen auf verschiedenen Wegen den Hügel hinauf, von Zeit zu Zeit das J-ah J-ah des Tieres nachahmend. Ihr Eselsgeschrei ist so vollendet, dass sie sich gegenseitig tauschen : jeder glaubt, der andere sei der wirkliche Esel - bis sie endlich aufeinanderstossen, einer des andern Spiegel: jeder bewundert des andern Kunst, ergeht sich in Lobpreisungen, bis ihnen aufdämmert: «wenn der Priester gut vorsingt, bleibt der Chorknabe nicht zurück». 2. Cervantes war ein mutiger Mann. Luther hatte eben die Einigkeit der Heiligen Kirche angegriffen, die Reaktion setzt ein, die Bremsen der Rechtglaubigkeit sind angezogen, Kaiser Karl der V. schlägt die Comuneros bei Villalar nieder, das heisst, demokratische Freiheiten werden schon im Keim abgewürgt: ein Zeitalter der Orthodoxie steigt auf, eine verregelte Welt. Die Parallelen zu Don Quijote betreffen nicht nur die Figur des traurigen Ritters. 3. In solchen Zeiten wird aus Wuchs Zwang, aus Wäldern werden Baumschulen. Im Streit um den «Cid» siegte die Akademie und Corneille wurde Baumschüler. Natürlich Primus, denn er war nicht nur folgsam sondern auch ein genialer Mann. 4. Die Sache lief auch für Cervantes nicht harmlos ab. Er musste seinen Lebensunterhalt auf andern Gebieten suchen als auf dem der Literatur. Heute nennt man das «recycling»-viele Architekten kennen das. Cervantes wurde Lebensmittellieferant für die Armada, später Steuereinzieher. Als Armeelieferant wurde er exkommuniziert, weil er es wagte, Weizen-oder Weisheiten-die der Kirche gehörte zu beschlagnahmen. Als Steuereinzieher kam er ins Gefängnis wegen seinen etwas abwegigen Verrechnungsmethoden. Noch ohne Computer. 5. Cervantes lebt voll in seinerzeit und aus ihr schöpft er seine Figuren, die für uns zu Symbolen geworden sind. Hätte er absichtlich Abstraktionen zu Symbolen erheben wollen, wäre es ihm nie gelungen, ein heute noch lebendiges Werk zu schaffen. Wie ein Stein, der ins Wasser fällt, so zieht auch ein gültiges Werk Kreise, die weit über die Grenzen der beschränkten Einsicht seines Schöpfers hinausreichen. «Ich aber, der ich zwar Vater des Don Quijote scheine, aber nur sein Stiefvater bin», schreibt Cervantes - wie hätte er ahnen können, zu welcher Grösse sein «trockener, verrunzelter» Sohn heranwachsen würde ? Nicht was Cervantes wollte, sondern was Don Quijote geworden ist im Laufe der Zeiten, ist unser Erbteil, unser Reichtum, unsere Freude. Kritiker, Zeitgenossen und Geschichtsschreiber zäumen das Pferd oft am Schwanz auf. 6. Am Anfang der Erzählung ist sich Don Quijote seiner Persönlichkeit noch nicht bewusst, seine Illusion hat noch keine Formung, zwei Ströme spürt man, den noch formlos fliessenden Seelenzustand der Figur und das gestaltende Suchen ihres Schöpfers. Der Typus zeichnet sich erst ab, er hat sich noch nicht freigemacht von den Falten im Kopf des Autors, Cervantes überträgt sein Schwanken unbewusst auf seinen Helden und zwingt ihn im gleichen Rhythmus mitzuschwanken, bis Don Quijote nach und nach Charakter annimmt und seine Illusion Form. Von da an entwickeln sich seine Persönlichkeit und sein Leben konsequent nach der Linie, die aus seiner eigenen innern Grammatik kommt. Dieser Vorgang spielt sich beim Entwerfen ab, meist bleibt er nur an Skizzen und Modellstudien sichtbar, wenig bleibt ablesbar am fertigen Bau, leider, denn was dieser im Entwurfsprozess an Klarheit gewinnt, verliert er oft an Lebendigkeit.
7. Der Ritter eine Figur, die Cervantes in tausenden von Ritterromanen seinerzeit vorgepragt findet-er will ihr ja mit Don Quijote den Garaus machenund doch stanzt er sie nicht nach dem bekannten Prototyp sondern entwickelt sie neu aus ihrem Wesen heraus, füllt sie so prall mit vielfältigen Leben, dass man das, was als einfache Parodie auf den Ritterroman begann, nicht ins nächstbeste akademische Fach einordnen kann. 8. Don Quijote baut sich seine Illusion so auf, dass er darin wohnen kann und sorgt dafür, dass diese Illusion, jetzt eine höhere Wirklichkeit, ihn nicht im Stich lasst. Er bastelt ein Visier aus Pappe und muss feststellen, dass sein Schwertes mit einem Hieb durchhaut. Er flickt es, verstärkt es sogar mit Eisenteilen, aber hütet sich, es noch einmal auszuprobieren. Er halt einfach an der Illusion fest, das sei jetzt das starke Visier, das er brauche. Nie mehr wird er der Wirklichkeit trauen, nie mehr seine Überzeugungen auf Probe stellen, wenn er auch nur die geringste Gefahr wittert, die Tatsachen könnten ihn Lügen strafen. Wer verteidigt starker eine heissgeliebte Illusion, ein Dogma, als wir Architekten ? 9. Sancho gilt als handfester Realist. Er sammelt Erfahrungen bei konkreten Fallen des Alltags. Momentane Umstande führen zu momentanen Entscheiden und zu momentanen Schlussfolgerungen. «Ein Sack voller Wahrheiten »sei er, sagt Don Quijote von ihm, Wahrheiten, die wie Steine im Sack durcheinanderkollern ohne innern Zusammenhalt. 10. Scharen von Lesern und Deutern haben diese zwei Figuren, grob vereinfachend, zu einem Gegensatzpaar auseinandergerissen: Don Quijote, der tapfere Ritter und Idealist, Theoretiker, Sancho, der handfeste, feige Realist, Praktiker. Im Buch aber werden diese zwei Gestalten in einem dichten psychologischen Gespinst immer mehr verwoben, weil sie aufeinander einwirken, Sancho wird bis zu einem gewissen Grad der in eine andere Tonart transponierte Don Quijote. Beide sind mit Verstandesgaben gesegnet, nur haben diese bei Don Quijote eine mehr intellektuelle Färbung und bei Sancho eine empirische, beide brauchen eine Illusion, um an sich glauben zu können, Don Quijotes Illusion kreist im Kern um Dulcinea, die den Ruhm verkörpert, für Sancho wird der Besitz der Insel zum Zeichen der Macht, beide werden von einem gewissen Augenblick an Opfer einer Selbsttäuschung, hin- und hergerissen zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Zeichnung und Bau. 11. Drei Jahrhunderte sind vergangen, und doch sind alle Figuren, die Cervantes verjagen wollte wiederda: Donald, der fahrende Ritter, kehrt als Cowboy verkleidet auf die Filmleinwand zurück, um tausend neue Abenteuer zu bestehen, die Wind- und Walkmühlen sind das geworden, wofür eine entfesselte Fantasie sie hielt: Riesenungeheuer der Grossindustrie, die die Welt mit hundert mächtigen Armen umklammern, erdrücken. Sanchos Verlangen nach dem Besitz einer Insel ist in den Herzen unzähliger Sanchos, die die Welt bevölkern, erwacht, so dass es nicht mehr genug Inseln gibt — und Don Quijote, der Architekt, geht traumwandelnd auf dem hohen Seil zwischen Imagination und Realität in der ständigen Gefahr, sich den Hals zu brechen. Heidi Wenger, BSA