Diese 69. Nummer der von Anthony Krafft gegründeten Zeitschrift Schweizer Architektur (AS) gelangt kostenlos und unverbindlich in alle Projektierungsbüros der Schweiz. So verbinden sich Information und Werbung. Mit dem Ziel, einem gewissen Mangel an Fachdokumentation entgegenzuwirken, wurde AS 1972 gegründet und hat seitdem 700 Bauten und Projekte veröffentlicht, was den Inhalt von 5 Ordnern ad hoc ergibt. Für den Historiker bedeutet diese Sammlung «technischer Blatter» eine Dokumentation aus erster Hand in der alltäglichen Praxis der Schweizer Architektur im Wandet. Neben einer vollständigen Palette von Bauaufgaben erscheint die Vielfältigkeit der Formen in einer bunten Reihe : der «aufrichtige und bescheidene» Provinzialismus der kleinen, mit sich selbst wetteifernden Büros; die répétitive Sicherheit der grossen, auf farbige Zeitschriften abonnierten Büros; die Architektur der Unternehmer, die die Mode verfolgen; die Erscheinungen einer von der Kritik beschriebenen Tendenz wie z.B. die «Solothurner Schule», der «Regionalismus» oder der «Postmodernismus» und schliesslich die Werke der wissenschaftlichen Architekten, international anerkannt in ihrer Rolle als Künstler und Intellektuelle. Die Redaktionspolitik von AS liegt im Bestreben, sich ausserhalb der Polemik zu situieren und einen empirischen Pluralismus, der die jüngste Bautätigkeit auf helvetischem Gebiet reflektiert, an den tag zu legen.
Für den Architekturpraktiker sammelt AS indessen Beispiele und liefert Muster, die gegebenenfalls zum Modell werden können. Die Aufgabe des Redaktionskomitees besteht darin, den Verleger auf interessante Objekte aufmerksam zu machen; dieser stellt die Nummern in eigener Verantwortung zusammen. Laut den Worten ihres Direktors möchte AS «ein Werkzeug für die Architekturpraxis» sein. Diese pluralistische und «liberale» Behandlung «ohne Kommentar» ist gedacht als Ergänzung zu den anderen angeseheneren - schweizerischen Zeitschriften, die eine kritische und thematische Richtung verfolgen. Es kommt nicht von ungefähr, dass AS die Unterstützung durch die wichtigsten Fachorganisationen als Vertreter der schweizerischen Architekturpraxis fand. Anthony Krafft spielt in Lausanne seit 30 Jahren die Rolle eines grossen Förderers von Architektur, Bildern und Debatten. Als ehemaliger Direktor von Architecture, Formes + Fonctions brachte er 1980 die internationale Zeitschrift Architecture Contemporaine (AC) heraus.
Jeder Ausgabe von AS geht ein Heft mit dem Titel AS-Frei voraus, wo sich ein Autor zu aktuellen Themen äussert. Die Nummer 69 von AS-Frei zwei Neuigkeiten : erstens das Engagement von Luigi Snozzi als Berater des Redaktionskomitees und zweitens die i retrospektive Ausstellung desselben Architekten. Diese Ausstellung wurde letzten Herbst im Architekturmuseum Basel konzipiert, dieses Frühjahr an der Abteilung für Architektur der EPF-L gezeigt und mit einem von Electa Mailand herausgegebenen katalog dokumentiert; sie stellt eines der wichtigsten Ereignisse der aktuellen helvetischen Architektur dar. Wir haben versucht, etwas von dem einen Augenblick lang festzuhalten, indem wir Snozzi interviewten. Dieses Interview fand im Monat Mai um 8 Uhr morgens unter dem Portikus des Königsplatzes in Barcelona statt.
Frage: Der Trompetenspieler Dizzy G illespie begrüsst zu Beginn eines Konzerts zuerst gern die Kinder. Wenn Sie Kindern erklären müssten, woraus der Beruf des Architekten besteht, was würden Sie sagen?
Antwort : Beginnen wir mit dem Bleistift, der sich alle Tage bewegt. Die Papierstücke, auf die ich zeichne, allein auf einem Stuhl sitzend oder an einem Tisch von Freunden umgeben, das ist wie Atemholen. Ich beobachte, ich spreche. Aber der Beruf des Architekten bedeutet auch Routine, die Linien, die auf dem Zeichentisch Tag und Nacht entstehen. Beschäftigt sich ein Architekt mit einem Bauprojekt, so zeichnet er. Bleistift und Papier i
genügen ihm in dem Moment, wo die Gedanken in seinem Kopf herumschwirren. Man muss das Baugelände auch besichtigem schreitend durchmessen und seine Geschichte erfassen. Es ist mir schon passiert, dass ich meinen Zeichentisch auf das Grundstück, einen steilen, von Terrassen unterbrochenen Abhang brachte. Ich befand mich auf einem ehemaligen Weinberg, der von einer Gruppe isolierter Hauser bedeckt war. Die Erinnerung an Weinstöcke war diesem Stück Land verloren gegangen. Frage: Ist Architektur vor allem das Handwerk des Zeichnens? Antwort : Nein. Man muss die Büroroutine, das Telefon, die Putzarbeiten nicht vergessen. Sobald die Arbeiten auf der Baustelle beginnen, füllt der Kontakt mit den Unternehmern und Handwerkern die Tage aus. Im weiteren reicht die Arbeit auch in die Politik hinein. Kindern würde ich sagen, dass man seine Gedanken vor anderen Menschen ausdrücken muss : reden, schreiben, an Versammlungen teilnehmen, vor Freunden und Feinden die eigenen Ideen verteidigen. Architektur bedeutet all das : zeichnen, nachdenken, politisch aktiv sein, Projekte ausführen. Mit Architektur macht man keine Revolution, und Revolutionen genügen nicht, um Architektur zu machen; der Mensch braucht beides. Frage: Sprechen wir nun zu den Erwachsenen. Antwort : Ihnen würde ich dasselbe sagen Frage: Kommen wir zurück zu den Kindern. Wie erklärt man ihnen, dass das Zeichnen eine intellektuelle Handlung sichtbar macht, dass eine «wirkliche Wiese bis zum Mittelpunkt der Erde reicht» (It. den Maximen Ihres Buches), weil «das Gebäude stets beim Fundament an fängt» und eine Wiese ein Stück Architektur ist. Antwort : Die Geographie begeistert mich. Geographische Karten sind mein Bilder- und Geschichtsbuch. Der Bergsteiger ist glücklich, wenn er eine Wand erklimmt, denn er weiss, dass der Berg die Stadt verbirgt. Der Matrose ist auf hoher See glücklich, weil er weiss, dass er hinter dem Horizont die Stadt finden wird. Geographie bedeutet gleichzeitig durchlaufen, sich orientieren und die «Rohmaterialien» der Architektur, nämlich Wasser, Luft, Erde, Feuer, entdecken. Ich liebe den Stein und Eisenbeton. Jeder Stein trägt seine Geschichte in sich, die lange Geschichte der Geologie. In der Stadt graviert sich die Geschichte der Arbeit und Beanspruchung in den Stein. Die Stadt enthält die Glut der Vulkane, den Sand der Wüste, den Urwald und die Steppe, die Flora und die Fauna, kurz, die gesamte Natur. Frage: Sind Bäume Architektur? Antwort : Selbstverständlich. Sie sind so wichtig wie die Mauer, das Fenster, die Strasse. Um Bäume zu mögen, muss man sie pflanzen, aber auch fällen können. Besonders liebe ich die Pappeln, die mich an den Wind der Ebenen erinnern, die ausgeästeten Platanen an den Seeufern und die vergängliche Zartheit der Birken. Im Tessin pflanze ich diese einheimischen Sorten an. Die Palme ist ein Baum des Tourismus. Ich träume davon, zwei Zypressen auf einen Platz zu pflanzen. Frage: Ist es wahr, dass sich die Tessiner Architekten unter die Arme greifen? Antwort : Die Tessiner Architekten bilden Gruppen und unterstützen sich gegenseitig. Ihre Solidarität hat die Qualität des Produktes zum Ziel. Dafür müssen oft feste Normen durchbrochen werden, es muss vor Kommissionen debattiert und den Behörden standgehalten werden. Meine Ausstellung in Basel und Lausanne war nicht ausschliesslich persönlich. Sie zeigte Arbeiten, die zusammen mit Kollegen wie Livio Vacchini, Bruno Jenni, Tita Carloni, Aurelio Galfetti, Mario Botta entstanden waren, um nur einige zu nennen. Frage: Im vergangenen Jahr brachte der Wettbewerb für das Nyoner Gymnasium die Architekten des Waadtlandes in Aufregung. Ein paar Fachkollegen griffen sich sogar in der Öffentlichkeit gegenseitig an.
Antwort : Eine solche Situation ist im Tessin undenkbar. Wenn wir von Polemik Gebrauch machen, dann geschieht das nicht, um die Ausführung guter Projekte zu verhindern, sondern um die Architektur-Kultur in der Öffentlichkeit zu verstärken. Frage: Sprechen wir von Ihren Reisen. Antwort : Von welchen ? Frage: Von den Entdeckungsreisen. Antwort : Nach der Schule ging ich mir den Süden anschauen, die italienischen Städte, Sizilien und Griechenland.
Frage: Eine neue «Grand Tour» im Sinne der Briten? Antwort : Ich habe im Mittelmeer gebadet. Dann habe ich systematisch den sozialen Wohnungsbau in Holland, in Frankfurt, Stuttgart, Berlin und in der deutschen Schweiz besichtigt. Seit ungefähr 10 Jahren wiederhole ich meine früheren Reisen. Wenn ich einen Weg entwerfe, einen Stall, ein Haus oder ein Wohnviertel, denke ich immer an die Stadt. Frage: Ist es eine Stadt, die Sie besonders berührt? Antwort : Mailand ist die Stadt auf der Welt, die ich am meisten liebe. Das Gespräch führte J. Gubler. Barcelona, Mai 1985.
ln den nächsten Nummern wird «Schweizer Architektur» eine Rubrik für «Architektur auf Papier» anbieten
Wenn man sich die Zeichnungen ansieht, die sich auf die Entstehung einer architektonischen Form beziehen, kommt man oft auf den Gedanken, dass diese Architekturzeichnungen gleichzeitig ein Instrument für die Suche und ein Medium für die zukünftige Darstellung eines Objektes sind. Erhalt die Zeichnung durch ihre Verbreitung wie ein Objektwert auch eine Qualität der Autonomie, um heimlich ein Legitimierungsmodell zu werden ?
Mit einer Schnelligkeit, die bei der Realisierung von Projekten unmöglich ist, halten diese Zeichnungen und ihre Verbreitung architektonische Merkmale oder Ausdrucksweisen fest, deren konstruktive Umsetzung oft zeitlich verlagert oder auf andere auszuführende Objekte übertragen wird. Welches waren die Bedingungen für einen Avantgardismus der Architekturzeichnung ?
Mit dieser Rubrik beabsichtigt «AS» Beziehungen herzustellen, die zwischen den gebauten, in Form von Blattern dargestellten Objekten und der Welt einer Architektur auf Papier - und dem kurzen Gedächtnis - bestehen und auch diffuser Natur sein können. Oft haben diese Bauten ihre Realisierung der Architektur auf Papier zu verdanken.
Gegenstand von kurzen Darstellungen und Überlegungen auf den Seiten von as / FREI werden Zeichnungen oder Modelle von nicht ausgeführten Projekten und Wettbewerben oder auch experimentelle Zeichnungen sein.