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Der Backstein, ein universelles und zeitloses Material: eine Gelegenheit, nach seinem Entstehen zu fragen

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Der Backstein, ein universelles und zeitloses Material: eine Gelegenheit, nach seinem Entstehen zu fragen

... Erschuf die Bäume... Erlegte einen Backstein hin, er machte die Form für den Backstein. Er errichtete das Haus, erbaute die Stadt. (Sources orientales, La naissance du monde, I, Paris 1959)

Ursprünge Abgesehen von seiner praktischen und historischen Verwendung, oder eher gerade deswegen, versinnbildlicht der Backstein hier den Übergang der Menschheit zur sesshaften Lebensweise und zum Ursprung des Städtebaus : Haus, Stadt, Tempel. Er ist Sinnbild für den an sein Haus gebundenen Menschen auf seinem Grund und mit seiner Familie, der sich in Form eines Dorfes oder einer Stadt organisiert und seine Kultorte hat. Der Backstein bringt ihm die Sicherheit einer Bleibe, der Kultur, der Gesellschaft, des göttlichen Schutzes; erbringt ihm aber auch die Beschränkung, denn der Backstein ist das Mass und die Regel, die Einheitlichkeit. Diesen Quader, handwerkliches und industrielles Produkt in einem, kann man mit der einen Hand ergreifen und mit der andern mit Mörtel bestreichen; er fasziniert wegen seiner Universalität und Zeitlosigkeit, wegen seiner mythen- und legendenreichen Geschichte. Der Schöpfer dieses ältesten «künstlichen» Materials der Menschheit könnte den Anspruch erheben, der Erfinder der Norm und des Konstruktionsmoduls in einem zu sein. Obwohl der ungebrannte Backstein aus früherer Zeit stammt, ist er immer noch aktuell, denn heute lebt fast die Hälfte der Weltbevölkerung in Häusern aus «luftgetrockneten»Ziegeln. Derjenige, der das Brennen des Tons erfunden hat, kann die Ehre in Anspruch nehmen, gleichzeitig die keramische Industrie (Backstein, Ziegel, Geschirr, Isolatoren, Sanitärmaterial, Schamottestein, Steingut, Porzellan...) ins Leben gerufen und die Chemie der Silikate erfunden zu haben und, warum nicht, der Vater der Gastronomie zu sein, denn die kulinarische Kunst konnte erst nach der Entwicklung der Töpferkunst entstehen.

Die industrielle Revolution Nachdem sich die Herstellung des Backsteins eingespielt hatte, entwickelte sich das Fabrikationsverfahren bis zur industriellen Revolution kaum mehr. Letztere hatte dann eine allgemeine Tendenz, der jedes Baumaterial unterworfen war, nämlich die Rationalisierung und Mechanisierung. Das Bauen selbst blieb die Ausnahme von der Regel. Die Tatsache, dass im 19. Jahrhundert mehr Gebäude erstellt worden sind als während aller vorhergehenden Jahrhunderte zusammen, ändert nichts daran, dass das Bauen eine handwerkliche Tätigkeit blieb. Eine Reise, die 1815 eine Angelegenheit von mehreren Tagen war, dauerte 1914 nur noch einige Stunden. Die Produktivität der Weber, Müller, Bergarbeiter, Schneiderinnen, Landwirte bis zu jener der Ziegelbrenner nahm innerhalb eines Jahrhunderts fast unbegreifliche Ausmasse an, aber der Maurer von 1914 handhabte seine Kelle kaum anders als sein Vorgänger von 1815. Dass das Bauen seinen handwerklichen, ja traditionellen Charakter behielt, hat auch seine psychologischen Gründe. Der perforierte Backstein, der die Leistung der Maurer spürbar erhöhte, wurde 1813 in England erfunden, und seine Fabrikation lief gegen 1850 an; aber es dauerte hundert Jahre, bis dieses schnelle Verfahren beim Bauen akzeptiert wurde. Darüber hinaus wird der grossformatige Hohlziegel in vielen Ländern nur für vergipstes Mauerwerk verwendet. Was die Aussenflächen betrifft, bevorzugt man oft den «kleinen Backstein» unserer Vorfahren. Seit der industriellen Revolution sind unendlich viele Backsteine «patentiert» worden, die nach Aussage ihrer Erfinder dem Maurer die Arbeit erleichtern und dadurch die Baukosten beträchtlich senken sollen. Vor mehr als hundert Jahren war es Henry Roberts, . der als erster eine solche Erfindung machte und seinen Spezialziegel an der grossen Bauausstellung von 1851 ausstellte. Bis heute hat es an jeder Erfindermesse mindestens einen Aussteller gegeben, der glaubt, einen neuen Spezialstein zeigen zu müssen, übrigens ohne Erfolg. Der unbekannte Erfinder aus dem biblischen Jericho, der vor zehn Jahrtausenden den ersten rechteckigen Ziegelstein geformt hat, scheint diesem die endgültige Form offensichtlich schon gegeben zu haben. Die Industrialisierung hatte auf das Bauen merkwürdige Auswirkungen. So sind ab 1880 in den Fassaden oberhalb der Fensteröffnungen regelmässig Stahlträgerzu finden. Seltsam ist die Tatsache, dass der gemauerte Entlastungsbogen meistens beibehalten wurde, so dass der Träger jeden Sinn verlor. Die Türund Fensteröffnungen aus derZeit zwischen 1880 und 1914 sind oft sehr elegant, zeigen aber trotzdem diese alte Schwäche beim Bauen auf: die Überbewertung der statischen Probleme, vielleicht

weil eine jahrtausendealte Tradition, über die schon in den Gesetzen Hammurabis nachgedacht worden war, die Verantwortung für die Stabilität des ganzen Gebäudes dem Architekten übertrug. Das zwanzigste Jahrhundert Die auffallendste Neuerung ist ohne Zweifel die Einführung des Zweischalenmauerwerks. Die Idee, die Aussenmauern in Form von zwei getrennten Schalen auszuführen, war nicht neu, und Patente dieser Art waren schon seit Beginn des 19 . Jahrhunderts angemeldet worden. Aber erst in der Zwischenkriegszeit begann sich das Zweischalenmauerwerk allmählich durchzusetzen. Gewisse Historiker haben sich vergeblich gefragt, warum mit der Verwendung des Zweischalenmauerwerks so lange gezögert wurde. Man kann annehmen, dass es mit den Architekturstilen etwas auf sich hat: Es wäre technisch schwierig gewesen, ein Gebäude im neogotischen oder Jugendstil mit einem Zweischalenmauerwerkzu versehen. Man musste die grossen, glatten Flächen der Moderne abwarten, denn es ist offensichtlich, dass das Zweischalenmauenwerk nur dann einen Sinn hat, wenn die Mauerflächen genügend gross sind.

Man darf nicht vergessen, dass die Form zumindest teilweise von den verwendeten Materialien und Strukturen unabhängig ist und dass neue Techniken nicht notwendigerweise Fortschritt bedeuten. Der deterministische Standpunkt vernachlässigt die Vorstellung von der Architektur; der Mensch macht übrigens nicht nur allein deshalb etwas, weil er es machen kann. Obwohl zum Beispiel die alten Ägypter das Gewölbe kannten, verwendeten sie es selten und nur dort, wo es nicht in Erscheinung trat, denn es entsprach nicht ihrem Bild oder ihrer Vorstellung von einem Gebäude. Am besten betrachtet man die Materialien, die Konstruktion und die Technologie als verändernde Faktoren und nicht als Determinanten, weil sie wederden Bau noch seine Form bestimmen - dafür sind andere Motive massgebend, zum Beispiel Motive kultureller Art. Anhand eines geschichtlichen Abrisses ist es interessant festzustellen, dass sich die meisten Völker und Zivilisationen nicht in der materiellen Existenz, sondern in ihrer rituellen und spirituellen Lebensweise beträchtlich unterscheiden. Wen erstaunt es da noch, dass sich ein Verwaltungsgebäude von Fl. Poelzig aus dem Jahre 1924 in Flannover mit einem bestimmten Flotel, um 700 v. Chr. in Babylon gebaut, vergleichen lässt und man dabei die Gleichheit in der Backsteinstruktur aufzeigen kann ? Was jedoch versuchen wir heute mit dem Erscheinungsbild unserer Bauten und Städte wiederzugeben ? Können wir uns mit dem heutigen Bild unserer Stadtrandgebiete, zersiedelten Wohnquartiere und stochastischen Industriezonen identifizieren ? Warum gehen sie nicht überdas System sich gegenseitig konkurrenzierender Gebäude hinaus ? Eine konventionelle Lösung hat den Vorteil, dass sich konkret auf eine logische Definition längst formulierter Probleme bezieht. So erhält das Projekt eine «Funktion», die darin besteht, sich mit den zahlreichen schon bestehenden Lösungen zu messen. Dieses Vorhandene wird bearbeitet und analysiert; das Spiel mit Analogien, Ähnlichkeiten und Umwandlungen lässt eine Variante entstehen, eine veränderte Wiederholung der Lösungen, deren Problemstellung zur kollektiven Erfahrung gehört. Sich auf die logische Struktur der Architektur beziehen heisst fähig sein, zu erkennen und zu begreifen, nach welcher Ordnung oder nach welchem System die Beziehungen zwischen Architektur und Umwelt, zwischen den Gebäudeteilen und den Einzelelementen geregelt werden. Das ist dort möglich, wo dieser logische Aufbau der Architektur als kollektive Erfahrung vorhanden ist; diese Erfahrung ist ein konventionelles System, das die Menschen im Lauf derZeit begreifen gelernt haben. Der Dichter des Gilgamesch-Epos hat vor viertausend Jahren auf seine Tontafel geschrieben: «Weder ein künftiger König noch irgendein Mensch wird dieser Mauer je etwas Ebenbürtiges entgegensetzen können.» Die Flerausforderung gilt immer noch.

Bibliographie Giovanni Peirs, La Terre cuite, Pierre Mardaga, éditeur, 1979. Franz Hart, Zur Geschichte des Backsteinbaus, in Werk, Bauen + Wohnen Nr. 9/1981. Arnos Rapoport, Pour une Anthropologie de la Maison, Dunod, 1972. Siegfried Giedion, The Eternal Present,vo\. 2, Pantheon Books, 1964. Lewis Mumford, Art and Technics, Columbia University Press, 1952. Giorgio Grassi, La Costruzione logica dellaArchitettura, Marsilio Editori, 1967. M.-C. Bétrix, E. Consolascio, Kontinuität zwischen Zeichnung und Ausführung, in Werk, Bauen + Wohnen Nr. 9/1981.