Architecture Suisse

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Schöne Töne... in einer Disharmonie

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Es gibt Bauten, die beispielhaft die Kluft zwischen der modernen Architektur und der breiten Öffentlichkeit aufzeigen. Das Gebäude Montchoisi Centre in Lausanne (1) von Daniel Wurlod ist ein solcher Fall. Es ist ein typisches Beispiel; ein Beispiel, wie es sich anderswo wiederholt, denn nach dem Bau der Raiffeisenkasse an der route de Berne in Lausanne und des Verwaltungsgebäudes Pontet in Ecublens (2) ist schon zum dritten Mal Streit um ein Gebäude von Daniel Wurlod entstanden. Schematisch gesagt: Abwehrreaktion seitens der Architekten und Sonderbewertung durch die Öffentlichkeit. Kommt es also zum Verhängnis, dass sich zwangsläufig zwei unerbittliche Parteien, zwei unvereinbare Standpunkte bezüglich der Kunst des Wohnens, zwei Sprachen ohne Verständnismöglichkeit gegenüberstehen ?

Gemäss Mario Botta hat Louis Kahn gesagt, dass in der Architektur die Idee und die Realität aufeinandertreffen. Die Architekten neigen auf ihrer Suche dazu, das Schwergewicht auf die Seite der Idee zu legen, während die Öffentlichkeit ganz der Realität verhaftet ist. Deshalb die Schwierigkeit, eine Grundlage für den Dialog und das gegenseitige Verständnis zu finden. Gute Architektur ist der öffentlichen Meinung immer ein wenig voraus. Sie nimmt Dinge vorweg, sieht gesellschaftliche Veränderungen voraus, sucht nach echten Lösungen, die der neuen Lebensweise entsprechen. Was aber wird von den Nutzern der Architektur immer wieder gefordert? Das Beibehalten von Modellen der Vergangenheit; das heisst Modellen, die man kennt, die man lesen gelernt hat und nach denen man lebt, die die Geschichte für uns ausprobiert und angepasst hat. Modelle, die Illusionen wecken und Sicherheit geben, auch wenn davon manchmal nur der Schein oder die Hülle übrigbleibt. Aber «Es ist nicht möglich, die Geschichte wiederherzustellen», sagt Botta noch. Ebensowenig wie man noch Latein... oder gar Patois spricht. Sprechen wir doch die Sprache unserer Zeit! Aber kommen wir auf Montchoisi-Centre zurück. Das Gebäude ist in drei Teile unterteilt: unten der «Sockel» mit den Geschäften, in der Mitte der Haupttrakt mit den Büros, oben das «Dach» mit den Duplex-Wohnungen. Tragstruktur aus weiss gestrichenem vertikal gerilltem Beton ; Fassade aus verklebtem Spiegelglas, durch drei Erkerfenster gegliedert. Entschluss zu Symmetrie und Monumentalität. Diesen Eindruck vom «Objekt» erhält der Passant von der avenue de Montchoisi aus. Das Gebäude gehört zu jener Kategorie von Bauten, die einen nicht gleichgültig lassen. Der Mann von der Strasse findet es nicht schlecht. Diesen Modernismus akzeptiere man gerne und möchte noch mehr davon haben, sagen die einen. Sie sehen darin eine Art Klassizismus nach feiner Manier, elegant und ohne Aggressivität, originell — die grossen Glasflächen, die sich über drei Geschosse erstrecken, verändern plötzlich die gewohnten Proportionen —, ohne unverständliche Seltsamkeiten. Andere fügen hinzu, die Spiegelfassaden würden der Strasse neue Perspektiven verleihen, anstatt den Horizont zu verstellen. Sie würden die umliegenden Häuser und den Himmel in sich bewegenden und verändernden Bildern widerspiegeln sowie Licht in die Strasse bringen. Der weiss gestrichene Beton habe ein freundlicheres Aussehen als der graue. 90.1

Er wirke modem und sei trotzdem nicht so hart und nackt wie das rohe Material. Die Helle und der Glanz machen das Gebäude in seiner Umgebung leicht. Es sei monumental in der Gestaltung, aber luftig und fast transparent in der Masse. Die Pflanzen schliesslich, die von den drei horizontalen Fassadenteilungen herabhängen, und die Bepflanzung, die die Fussgänger vom Strassenverkehr trennt, bringen wie üblich die Stimmenmehrheit; eine Begrünung, die willkommen ist, die in der Stadt ein Stück Natur darstellt, ein Schmuck, der allen gefällt. Kommen wir nun aber auf das andere Lager zu sprechen. Vorschriftsmässiges EPFL-Architektendiplom hin oder her, Daniel Wurlod ist die Zielscheibe mehrfacher, manchmal heftiger Kritik seitens seiner Kollegen. Gewiss spielen in dem Streit auch Rivalität, Dogmatismus und Engstirnigkeit eine gewisse Rolle, und zwar in einer Art «Biotop», in dem die starke Präsenz einer hohen Schule Spannungen und Differenzen wahrscheinlich noch verstärkt; diese reichen bis an die «Wahrheit» und «falsche» Baufachleute heran. Doch sehen wir uns die Argumente an. Montchoisi-Centre sei ein pseudo-moderner Bau, lautet der Vorwurf. Er bestehe aus modernen Materialien mit schmeichelnder, raffinierter Ästhetik (weiss gestrichener gerillter Beton, Spiegelglas), aus verlockenden, modischen Konstruktionsdetails (Spiegelfassaden, Erkerfenster, verklebte Gläser, die dem Bau ein sehr reines, gepflegtes Äusseres verleihen) und aus Anleihen bei einigen Grossen der gegenwärtigen Architektur, was am Gebäude den Eindruck des «Schön-Gesehenen» und «Schön-Bekannten» erzeugt. Die Öffentlichkeit hat das angenehme Gefühl, die heutige Architektur plötzlich zu verstehen. Doch alle diese Elemente zusammen ergeben noch kein organisches, kohärentes Ganzes, bei dem jedes Detail ein überzeugender, signifikanter Teil wäre. Das Zurückgreifen auf eine moderne Grammatik der Architektur und eine raffinierte Collage dekorativer Effekte genügt nicht, um das Fehlen der entwerferischen Grundlage und des wirklichen Beherrschens der Massen und der Gleichgewichte zu verbergen. Bei jedem Gebäude, das ästhetisch und funktional zu Ende gedacht ist, stellt jeder Baustein einen Teil der Symphonie dar. Hier gibt es jedoch keine Musik. Nur schöne Töne... Wie soll man wieder zu einem Dialog finden, wenn jede Seite eine andere Sprache spricht? Die Fachleute beziehen sich auf kulturelle, historische und plastische Gesichtspunkte; sie stellen Anforderungen, die etwas mit dem Bezug zwischen Form und Basis zu tun haben; ihren Bewertungskriterien liegen Vorstellungen zugrunde, die sich den meisten Menschen entziehen. Der Mann von der Strasse, der nicht gelernt hat, wie man die Grundstruktur eines Gebäudes liest, urteilt nach seinem optischen Gutdünken und nach praktischen Gesichtspunkten der Nutzung. Zudem ist er von einem merkwürdigen Konzept der architektonischen «Integration» bestimmt, was bei uns weit verbreitet ist und dazu führt, dass ein Stück Architektur umso grössere Chancen hat, der breiten Masse zu gefallen, je mehr es im Kontext verschwindet. Wertvolle «Verbündete» beim Erfolg sind also die Spiegelfassaden, die die Geometrie auflösen, deren Existenz man fast vergisst und die zur Spiegelung und optischen Täuschung werden, sowie die grünen Pflanzen, die die Volumen verbergen und die Linien verwischen — wie wenn sich die Gebäude durch Nachahmen der Natur für ihre Existenz gleichsam entschuldigen müssten. Was ist letztlich das Wichtigste: dass man sich an die Regeln der «Richtigkeit» nach der Definition der Spezialisten hält, oder ist es die Zustimmung der Nutzer? Die Gleichung ist überhaupt nicht einfach. Schliesslich kann sich der Architekt nicht damit begnügen, eine Skulptur zu bauen, auch wenn sie genial ist. Jean-Pierre Dresco, Kantonsarchitekt des Kantons Waadt, erinnert daran, dass die französische Schweiz für sich nicht in Anspruch nehmen kann, ein traditionsreiches Interesse an der Architektur zu haben. Diese Region ist diesbezüglich viel ärmer als ein Kanton wie das Tessin, das im Bauen auf eine reiche Erfahrung zurückblicken kann. Seit ungefähr zehn Jahren kann man jedoch ein neues Interesse feststellen. Die Diskussion über Architektur findet nun in der Öffentlichkeit statt, wenn auch nur allzu oft aufs Geratewohl. Die Sache ist noch zu neu, als dass sie schon fruchtbringend wäre. Aber die Sehweise wird nach und nach sensibilisiert, man lernt, wie man liest und fühlt. Die Diskussion ist offen. Beiträge wie die waadtländische Architekturauszeichnung wirken befruchtend auf ein Gebiet, das schwierig ist und von einschneidenden Regiementen beherrscht wird. Es zeigt sich, dass sich heute eine gewisse Anzahl von Fachleuten viel eher als in den siebziger Jahren für eine Architektur entscheidet, die gegenüber der gebauten Umgebung stärker betont ist und in der Gestaltung deutlicher hervortritt; zu lange ist das Erhalten von Orten mit nachgiebiger Schlaffheit und ereignisloser Banalität im baulichen Kontext verwechselt worden. Françoise Jaunin